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Vorlaute folgt auf Vermittlerin
Ricarda Lang will in den Vorstand der Grünen, Gesine Agena kandidiert nicht mehr.
Die eine trinkt gerne französischen Weißwein, die andere kauft »halt irgendwas mit bio«. Die eine spricht so leise, dass sie kaum zu verstehen ist, die andere so laut, dass sich die Leute am Nachbartisch umdrehen. Die eine benutzt Wörter wie »regulatorisch«, die andere spricht von der »Systemfrage«.
Die eine, das ist Gesine Agena: seit 2013 im Bundesvorstand und frauenpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen. Sie wird bei der Bundesdelegiertenkonferenz dieses Wochenende in Bielefeld nicht wieder antreten. Die andere, das ist Ricarda Lang. Die Jura-Studentin war Sprecherin der Grünen Jugend und will Agena beerben.
Die Grünen wählen auf ihrem dreitägigen Bundesparteitag vom 15. bis 17. November in Bielefeld ihren Vorstand sowie den Parteirat neu. Es gilt als sicher, dass Robert Habeck und Annalena Baerbock als Parteichefs wiedergewählt werden. Dagegen scheidet Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt freiwillig aus dem 16-köpfigen Parteirat aus. Vor rund zwei Jahren schaffte sie es erst im zweiten Wahlgang in das wichtige Gremium.
Im Leitantrag an den Parteitag ist festgehalten, dass die Grünen die Schuldenbremse lockern und einen Milliardenfonds für Investitionen einrichten wollen. Es soll europäische Klimazölle geben und eine neue Definition für den gesellschaftlichen Wohlstand. Ab 2030 sollen keine neuen Autos mit Diesel- und Benzinmotoren mehr zugelassen werden.
Als Gastredner sind Gewerkschaftschef Reiner Hoffmann vom DGB und der Vorstandsvorsitzende von Union Investment, Hans Joachim Reinke, eingeladen. nd
Die Grünen betonen, dass sich viele qualifizierte Frauen in ihren Reihen tummeln; doch für diesen Posten hat sich außer Lang bisher keine andere gemeldet. Im Gespräch waren zunächst die ehemaligen Piratinnen Marina Weisband und Laura Dornheim. Doch die wollten nicht. Der linke Grünen-Flügel unterstützt nun Lang. Die sei bestens vernetzt und werde gut mit der Vorstandsfrau Jamila Schäfer harmonieren, heißt es aus Parteikreisen.
Zum Kennenlernen schlägt die Kandidatin die »Böse Buben Bar« nahe dem Reichstag vor, wo sie als Hilfskraft arbeitet. Doch die Bar hat zu. Kurz vor dem Termin gibt Lang per Facebook einen anderen Treffpunkt durch. Fast alles läuft bei der 25-jährigen Schwäbin über Social Media, das ist ihre Heimat, hier wurde sie bekannt - und abgehärtet nach einer Beleidigungswelle von rechts. Die Angriffe wendete sie in einen Erfolg für sich; sie startete kurzerhand eine Kampagne gegen »Bodyshaming«, das sich Schämen für den eigenen Körper, das vor allem Frauen betrifft.
Eiligen Schrittes, aber pünktlich, rauscht sie an. »Drinnen alles voll? Dann sitzen wir draußen, kein Problem.« Getränk? Braucht sie nicht. Lang kommt gleich zur Sache. Sollte sie in den Vorstand gewählt werden, lautet ihr Ziel: die Verbindungen zwischen Geschlecht, Kapitalismus und Klima noch stärker zu betonen. Sie findet »super spannend«, dass Frauen in der Klimabewegung heute so weit vorne stehen. »Der Hass der Rechten auf Klimaschützerinnen wie Greta Thunberg ist so riesig, weil durch diese Aktivistinnen die Systemfrage aufgeworfen wird«, so ihre These. »Der fossile Kapitalismus untergräbt nicht nur unsere Zukunft, er beruht auch auf einer strukturellen Benachteiligung von Frauen.«
Wer Lang gegenübersitzt, muss daran denken, ab und zu einzuatmen. Sie selbst kommt scheinbar ohne Luftholen aus und beantwortet Fragen, bevor sie gestellt werden. Etwa die nach der praktischen Politik: »Wenn wir eine gleichberechtigte Gesellschaft erreichen wollen, müssen wir konkrete und schnell umsetzbare Initiativen wie Gesetze für Entgeltgleichheit oder gegen Hate Speech verbinden mit langfristigen Visionen, wie wir das Patriarchat überwinden.« Und dafür müsse die »Subjekt-Objekt-Spaltung« aufgebrochen werden. Sie meint die zwei Sphären der bürgerlichen Gesellschaft: Als männlich gilt das Rationale, Starke, Politische. Alles, was dazu nicht passt, werde auf die Frau projiziert: das Private, das Fürsorgliche, das Emotionale, das Körperliche. Noch bevor die Teller der letzten Gäste vom Tisch abgeräumt sind, hat Lang ihre Analyse ausgebreitet. »Jetzt bist du noch radikal, aber bald wirst du erwachsen und vernünftig«, sagten ihr die Leute. Doch sie glaubt - oder möchte glauben -, dass sich derzeit das Verständnis von »Vernunft« verändere. »Vernunft wird allzu oft gleichgesetzt mit Unterwerfung«, kritisiert Lang. Dabei seien viele Sachzwänge selbst gemacht, zum Beispiel die 40-Stunden-Woche. »Profit ist vielen in unserer Gesellschaft wichtiger als die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen und individuelle Selbstbestimmung.«
Sätze wie dieser müssten die Linkspartei neidisch machen. Warum ist sie nicht dort aktiv? Für Lang thematisiert Umweltfragen niemand so glaubwürdig wie die Grünen, und sie schätzt das solidarische Miteinander der Frauen dort. Aber rot-rot-grüne Bündnisse findet sie »super«. Einzelne Personalien sehe sie nicht als Hindernis, sagt sie und erzählt eine Anekdote: Treffen sich die Jugendgruppen von Grünen, Linkspartei und SPD. Kurz schämt sich jede Seite für ihren Kretschmann, ihre Wagenknecht und ihren Scholz. Dann wird über Politik gesprochen.
Und wieso will sich jemand mit einer so radikalen Gesellschaftskritik überhaupt die Fesseln einer Partei anlegen? Immerhin hat Lang in der Politik schon häufig Ungleichbehandlung erfahren. Etwa als sie bei »Hart aber fair« zu Gast war und der Thüringer CDU-Chef Mike Mohring sie als Einzige in der Runde konsequent geduzt habe. Selbst die Grünen seien nicht frei von sexistischen Mechanismen, ergänzt sie: »Man gibt für das Parteibuch ja nicht 20, 40 oder 60 Jahre Sozialisation an der Eingangstüre ab.« Als frauenpolitische Sprecherin könnte sie all das thematisieren, mit viel Reichweite. Dabei will sie auch diejenigen ansprechen, die denken, Gleichstellung sei längst verwirklicht. Das könnte ihr gelingen, denn Lang berichtet von Momenten, die viele Frauen kennen: Einmal, in der Rechtsextremismuskommission der Grünen, habe sie einen Vorschlag gemacht; der nächste Redner habe sie ignoriert, der Übernächste habe ihre Idee wiederholt - und das Lob geerntet, regt sie sich auf, ohne dabei schlecht gelaunt zu wirken. Doch jetzt muss Lang weiter. Später schickt sie noch Sprachnachrichten, in denen sie betont, wie sehr sie ihre Vorgängerin schätzt.
Wer war das eigentlich? Und warum hört sie auf? Gesine Agenas Büro organisiert ein Treffen in einem Kreuzberger Café. Dort hat sich die 32-Jährige in eine Nische gesetzt, die man vom Eingang nicht gleich sieht. Auch in ihrer Partei sticht die Ostfriesin weniger hervor als linke Haudegen wie Claudia Roth. Und das, obwohl sie der Grünen Sache rund fünfzehn Jahre lang gedient hat. In dieser Zeit hat die Politik- und Verwaltungswissenschaftlerin vieles erreicht. Sie hat den Feminismus der Grünen modernisiert - besser gesagt: postmodernisiert. Sie selbst spricht lieber von Prozessen, die sie »begleitet« oder »mitgestaltet habe«.
Ausgangspunkt dafür war der Zweite-Welle-Feminismus, eine heilige Kuh ihrer Partei. Der Begriff bezeichnet die Frauenbewegung ab den 1950er Jahren. Ihr sind Frauenquoten, straffreie Schwangerschaftsabbrüche, Frauenhäuser und vieles mehr zu verdanken. Agena, von einer ehemaligen Kollegin als »für ihr Alter wenig wild« beschrieben, weiß die Errungenschaften der Zweiten Welle zu schätzen. Sie teilt die dafür typische Ansicht, »dass wir weiter geschützte Frauenräume brauchen, weil Frauen in dieser Gesellschaft strukturelle Diskriminierung erfahren«. Doch viele Feminist*innen von damals meinen, es gäbe bloß zwei Geschlechter. Diese dichotome Denkweise wollte Agena überwinden, einen queeren Ansatz etablieren.
Das zeigt ihr letztes großes Projekt, über das der Parteitag in Bielefeld abstimmen wird: ein neues Frauenstatut in der Satzung. Diese sei bislang »von einem binären Geschlechterverständnis geprägt«. »Allein schon wegen des Urteils vom Bundesverfassungsgericht zur dritten Geschlechtsoption musste sich daran etwas ändern«, fügt sie auf ihre sachliche Art hinzu. Laut dem neuen Entwurf sollen Posten bei den Grünen, die bisher nur für Frauen reserviert waren, künftig allen offenstehen, »die sich als Frau definieren«, das heißt, auch trans* Frauen sollen von der Quote profitieren. Aber Non-binäre, die sich keinem Geschlecht zuordnen, Inter* sowie trans* Männer müssen weiter mit Männern um Plätze konkurrieren. Während sie all das erklärt, wählt Agena ihre Worte so sorgfältig wie andere ihre beste Freundin. »Man denkt, das ist nur eine Satzung, doch daran entzünden sich sehr viele unterschiedliche Meinungen.« Sie hätte gerne eine größere Öffnung für intergeschlechtliche Menschen gehabt, doch sei jetzt zufrieden. Der Antrag werde die nötige Zweidrittelmehrheit erhalten - egal, ob Kollegen wie Cem Özdemir dafür stimmen, der mal vorgeschlagen hatte, die Frauenquote abzuschaffen, und dem Agena damals Paroli geboten hatte.
Ein anderes ihrer Steckenpferde ist der intersektionale Feminismus. Intersection heißt auf Englisch Kreuzung. Gemeint ist damit: In einer Person können sich mehrere Merkmale »kreuzen«, die zu Unterdrückung führen, neben dem Geschlecht auch Klasse, rassistische Zuschreibungen, Alter oder Behinderung. Damit auch die Grünen bunter werden, gründete Agena vor Kurzem die Arbeitsgruppe Vielfalt. »Wir haben viele antirassistische Positionen, aber nur wenige von Rassismus Betroffene oder migrantische Mitglieder«, begründet sie ihre Initiative. Den unter einigen Linken verbreiteten Vorwurf, die Betonung vieler unterschiedlicher Identitäten führe zu einer Spaltung, die den Rechten nutze, findet sie gefährlich. Gruppen, die zu Recht mehr Mitsprache und Teilhabe einforderten, für den Aufstieg der Rechten verantwortlich zu machen, stelle eine »Täter-Opfer-Umkehr« dar, so Agena.
Doch sollte ihre Partei, wenn sie mehr Migrant*innen anlocken will, statt eine AG einzurichten, nicht eher ihre Asylpolitik überdenken? Agena zögert. Dann erinnert sie daran: Wie der gesamte Bundesvorstand lehne sie das Konzept der »sicheren Herkunftsstaaten« ab, das Abschiebungen in viele Länder ermöglicht. Von der Aussage »Abschiebungen gehören dazu«, die Parteichef Robert Habeck im Sommer gemacht hat, distanziert sie sich nicht.
Deutlicher positionierte sie sich nach der Kölner Silvesternacht gegen die rassistische Instrumentalisierung der sexuellen Gewalt. Mit Aktivistinnen wie Kübra Gümüşay oder Emine Aslan startete sie die Kampagne ausnahmslos. Dafür musste Agena sich von Frauen aus dem »Emma«-Umfeld anhören, sie verharmlose die Übergriffe. Gegenwind erfuhr sie auch vor einer Frauenkonferenz, als Kritikerinnen intersektionalen Feminismus »infantil« nannten. Die Grüne lud sie zur Diskussion ein, doch kaum eine kam.
Auf gewisse Weise verkörpert Agena den aktuellen Zustand des Feminismus: immer bemüht, nett und inklusiv zu sein. Vielleicht hat sie das müde gemacht. Der ständige Balanceakt zwischen Alt und Jung, das Austarieren der Interessen kann belastend sein. Oder warum hört eine Politikerin wie sie plötzlich auf? Zoff in der Partei habe es nicht gegeben, beteuert Agena. »Ich will nach zehn Jahren Berufspolitik einfach mal eine kurze Pause machen.« Was sie als Nächstes vorhat, verrät sie nicht.
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