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»Angela Merkel ist viel älter, das müsstest du wissen!«

Sandmännchen wird 60: Eine Unterhaltung mit einem lange Sprachlosen

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 9 Min.

Sandmännchen hat es sich in seiner Kürbiskutsche bequem gemacht. Die Füßchen stecken in Kunststoffstiefelchen. Dazu trägt es Cordhosen, Filzjacke und Zipfelmütze. Die Knopfaugen über dem weißen Wollbart blicken starr, aber freundlich. Das gepunktete Sandsäckchen hängt lässig am Jackenärmel. Der Mund bleibt geschlossen.

Wie sollen wir ein Interview führen, wenn du den Mund nicht aufmachst?

Sandmännchen

Seit dem 22. November 1959 jeden Abend auf dem Bildschirm: »Unser Sandmännchen«. Unverwüstlich fährt und fliegt die 25-Zentimeter-Puppe in die Welt der Kinder und überbringt ihnen kleine Geschichten. Die spitzbärtige Figur überlebte das Ende des DDR-Fernsehens und stieg wie Phönix aus der Asche des viel gescholtenen Staatsfunks.

Silvia Ottow unterhielt sich mit dem mundlosen Wesen. Sie sind alte Kollegen. Von 1983 bis 1991 war sie Dramaturgin und Autorin in der Redaktion des Kinderfernsehens. Sie betreute 76 Filme mit dem Sandmännchen und schrieb zahlreiche Sendungen. Später war sie als nd-Redakteurin tätig.

Ich komme ganz gut ohne Worte aus. Wer weiß, ob ich heute noch jeden Abend über den Bildschirm flimmern würde, wenn ich zu jeder Sache meinen Senf dazugegeben hätte. Du warst schließlich viele Jahre meine Dramaturgin und hast dich mit meinen Vätern über meine Geschichten, meine Fahrzeuge, mein ganzes Leben auseinandergesetzt. Da wirst du wohl wissen, wie ich ticke, oder?

Apropos Väter: Hast du keine Mutter?

Nicht, dass ich wüsste. Der Schauspieler und Regisseur Gerhard Behrendt hat mich 1959 erfunden, der Komponist Wolfgang Richter hat mein Erkennungslied geschrieben und der Autor Walter Krumbach hat den Text dazu gedichtet. Der Flugzeugkonstrukteur und Szenenbildner Harald Serowski hat meine Fahrzeuge gebastelt. Keine Frau weit und breit. Und die vier Väter liegen auch schon unter der Erde.

Welches Geschlecht hast du eigentlich?

Ich bin der Sandmann. Oder das Sandmännchen. Mal Maskulinum, mal Neutrum. Schreib doch »divers«. Das versteht jeder.

Kinder hast du ja auch nicht …

Hätte ich aber um ein Haar bekommen können. Auf einer meiner vielen Auslandsreisen war ich in der Sowjetunion und habe Mascha kennengelernt. Die war mit mir und dem berühmten Kosmonauten Sigmund Jähn zusammen im Weltall. Da hat es nicht nur an der Rakete gefunkt. Aber meine Väter und die Kollegen im Fernsehfunk haben unsere Beziehung mit Skepsis beobachtet. Es hieß, sie hatten Angst vor unserem Nachwuchs. Wie sollten die Kinder von mir aussehen? Die Leute haben sich ja schon über mich aufgeregt.

Was hat sie gestört?

Der Spitzbart. Angeblich sah ich anfangs aus wie der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht. Mein Vater Gerhard Behrendt hat das immer zurückgewiesen. Er wollte kindliches Gemüt mit Weisheit koppeln. Wer denkt denn da an Ulbricht? Und dann der fehlende Finger an jeder Hand.

Ein Unfall?

Nein, ich kam schon so zur Welt. Für eine Puppentrickfilmfigur mit 25 Zentimetern Größe mussten meine Finger so beweglich sein, dass sie Sandsäckchen oder Wanderstab halten können, Türen aufmachen oder Gegenstände tragen. Ich bestehe ja aus lauter Drähten, zusammengehalten vom Kunststoff. Das wäre mit fünf Fingern nicht zu machen gewesen.

Vollkommen zerzaust hast du in den ersten Sendungen ausgesehen. Bist wie ein Clochard an einer Straßenecke kauernd eingeschlafen.

Na, da war was los! Es kamen Päckchen mit Puppenbetten in der Redaktion an. Und mein Äußeres wurde ein wenig geliftet. Wie du siehst, habe ich bis heute nicht die kleinste Falte.

Beneidenswert.

Jedenfalls hat sich darüber niemand mehr aufgeregt. Über meinen Gesang gab es noch mal Beschwerden. Ich sang ja am Ende jedes Tages: »Kinder, liebe Kinder, das hat mir Spaß gemacht …« Aber an manchen Tagen starben berühmte Politiker. Und wenn ich dann ungerührt mein Spaßliedchen trällerte, hat das manchen Leuten gar nicht gefallen. Also musste bereits zehn Jahre nach meinem ersten Auftritt ein Vor- und Abspann gedreht werden, in dem es kein Lied zu hören gab und auch nichts Fröhliches zu sehen. Da wandere ich einfach so durch den Wald. Einmal im Winter, einmal im Sommer. Gestorben wird ja immer.

Fahren war wohl eher nach deinem Geschmack. Ich kenne keinen Menschen mit einem so ausufernden Fuhrpark … Ist denn das noch zeitgemäß?

Die meisten meiner Fortbewegungsmittel sind sehr umweltverträglich. Denk mal an den Ponyschlitten, den fliegenden Teppich, Solarmobil, Paddelboot, Grauschimmel, Draisine, Dreirad, Esel oder Seifenblase.

Schön, schön. Aber du unterschlägst jetzt Panzer und Rakete. Dafür warst du dir auch nicht zu schade.

Mein Gott, selbst die friedliebende Lady Di ist mal in einen Panzer gestiegen. Aber es stimmt schon, heute kann man das den Kindern nicht mehr zumuten. Ich hole das Ding nur noch zum Anschauen aus der Babelsberger Garage. Ist jetzt ebenso wenig sendetauglich wie seinerzeit mein Heißluftballon.

Ich erinnere mich. Eine Familie war mit dem Ballon über die Grenze in den Westen geflohen. Der Vor- und Abspann, in dem du ebenfalls mit so einem Fluggerät unterwegs warst, durfte ein paar Jahre nicht gesendet werden. Du galtest als Vorbild. Wie viele Fahrzeuge besitzt du eigentlich?

Wenn du Dinos, fliegende Pferde, Kürbiskutsche, Planierraupe, Regenbogen und solche Sachen mitrechnest, werden es wohl weit über 200 sein.

Respekt. Und die meisten davon entstanden vor der Wende. Wo es doch immer heißt, wir hatten nichts.

Zum Basteln im Trickfilmstudio hat es jedenfalls gereicht. Mein Szenenbildner Harald Serowski war ein begnadeter Tüftler, Zeichner und Erfinder. Er hat dafür wie Gerhard Behrendt und Wolfgang Richter den Nationalpreis der DDR bekommen. Wenn Harald nachdachte, wippte er auf seinem Lederschaukelstuhl hin und her, in den die Initialen »NPT« für Nationalpreisträger eingenäht waren, und nahm ein paar Züge aus seiner Pfeife. Ein genialer Mann. Er hat alle Fahrzeuge auf meine Größe hin maßstabgerecht gebaut. Kein Wunder, dass du die alle heute noch in einer Ausstellung bewundern kannst. Und Gerhard hat nicht nur den Nationalpreis der DDR bekommen, sondern später auch das Bundesverdienstkreuz.

Niemand hat sich an dich herangetraut. Jahrzehntelang hast du dich überhaupt nicht verändert. Immer die gleichen Haare, die gleichen Hosenanzüge, die versteinerte Miene und das trotzige Schweigen. Sieht fast so aus, als hätte sich die Bundeskanzlerin das alles bei dir abgeguckt. Nimmt man noch die Ostherkunft dazu, könnte man euch für Zwillinge halten.

Sie ist viel älter, das müsstest du eigentlich wissen. Schau dir mal die Falten an. Die einzige Gemeinsamkeit ist unser Beharrungsvermögen. Darüber hinaus sehe ich lediglich Unterschiede: Ich habe im Alter noch lernen müssen, zu hopsen, zu springen, Grimassen zu schneiden und Faxen zu machen. Alles, was vorher streng verboten war, haben sie nach der Wende beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) von mir verlangt. In einem Film haben sie mir sogar einen Mund gebastelt und ich durfte sprechen. Um ehrlich zu sein, es hat alles großen Spaß gemacht.

Warum ging das vorher nicht?

Das fragst du mich? Du warst die Dramaturgin!

Da hast du recht. Ich erinnere mich auch an einige Versuche, deine Physiognomie etwas zu modernisieren. Einer startete so Mitte der 80er Jahre. Gerhard Behrendt hatte einen Pilotfilm drehen lassen, für den er dir bewegliche Äuglein eingesetzt hatte. Du meine Güte, da war vielleicht was los. Die Kinder wollten das nicht, lautete die Begründung. Man erzählte sich, unser Bereichsleiter sei mit Margot Honecker befreundet gewesen. Sie habe sich oft beschwert, wenn ihr am Abendgruß des Kinderfernsehens etwas missfallen habe. Meistens war das etwas Ungewohntes, Neues. Interessierst du dich überhaupt für Politik?

Was für eine Frage! Ich bin ein Kind des Klassenkampfes. Als ich 1959 entstand, war gerade durchgesickert, dass sie im Westfernsehen ebenfalls ein Sandmännchen für Kinder ins Programm einbauen wollten. Es sollte am 1. Dezember das erste Mal auftreten. Wir bekamen den Auftrag, schneller zu sein. Dem Komponisten Wolfgang Richter wurde der Liedtext von Walter Krumbach angeblich spät abends am Telefon diktiert, und am nächsten Tag hatte er die Melodie fertig. Es war der Klassiker geboren, den wir bis heute hören. Dann ging alles sehr schnell. Ein paar Tage später war ich auf dem Sender. Vor dem Westsandmann.

Der war ohnehin ziemlich altmodisch im Vergleich mit dir. Ein Greis mit Kinnbart, der auf einer Wolke lebte. Hat sich nicht lange gehalten und erreichte nie deine Popularität. Gab es noch mehr Konkurrenz?

Den Wolkenopa habe ich mir selten angeschaut und auch erst nach dem Ende der DDR mal getroffen. Da war er längst ausrangiert worden. Anfang der 80er Jahre gab es einige Sandmänner im Westen. Aber ich kannte sie nicht persönlich. Ich habe schließlich von früh bis spät gearbeitet. Bis 1989 haben wir jedes Jahr zwölf Rahmenhandlungen gedreht, da blieb keine Zeit für privates Herumkutschieren.

Ich erinnere mich. Während du mit Stecknadeln befestigt auf dem Tisch im Studio schwitzen musstest, haben wir mit den Kollegen bereits neue Szenarien ausgetüftelt. Eisstockschießen im Spreewald beispielsweise. Da wurde Harald Serowski, der sich das ausgedacht hatte, streng gefragt, ob das nicht eine bayerische Sportart ist. Er meinte, das machten sie im Spreewald auch, das genügte. Durftest du eigentlich Urlaub nehmen?

Hatte ich gar nicht nötig. Ich bin in der ganzen Welt herumgekommen: Vietnam, Kuba, Mongolei, Bulgarien, Tschechien. Bis nach Afrika und in den Kosmos habe ich es mit meinem Team geschafft.

Als das DDR-Fernsehen eingestellt wurde, hast du deine Kollegen aber ganz schön im Stich gelassen. Bist auf einmal zum ORB nach Babelsberg umgezogen und hast dir eine neue Redaktion gesucht.

Moment. Wo wart ihr Redakteure denn, als Rudolf Mühlfenzl aus Bayern in Adlershof die Regie übernahm und Stück für Stück die Sendungen und die Leute »abwickelte«? Da sollte auch ich in den Ruhestand geschickt werden. Ein junges Ehepaar aus dem Westen hat die Demonstrationen organisiert, die das verhindert haben. Nicht du und deine Kollegen.

Tut mir leid, aber wir haben es nicht für möglich gehalten, dass eine so beliebte Sendung einfach abgeschafft werden könnte. Zumal du ja offenbar gut mit dem Mühlfenzl konntest. Ihr habt euch zusammen fotografieren lassen, und ein Double von dir stand auf seinem Schreibtisch. Ich war überzeugt, wir würden mindestens die nächsten zwanzig Arbeitsjahre zusammen verbringen. Erst als die Kündigungen im Briefkasten lagen, sind wir aufgewacht. Da konntest du dir schon beim ORB »einen Bunten« machen.

So siehst du aus! Vielleicht hatte ich anfangs etwas weniger zu drehen, aber dafür sind andere Aufgaben dazugekommen. Neue Outfits präsentieren, eine andere Art der Herstellung. Schon mal was von digitaler Animation gehört? Dann die viele Werbung. Denkst du vielleicht, mein Konterfei kommt von selbst auf den Tee, die Bonbons und den Käse?

Jetzt gibst du aber ganz schön an. Früher hättest du so etwas abgelehnt. Hast wohl zu viel von deinem Traumsand in die Augen bekommen …

Mein Traumsand ist etwas ganz Besonderes, das wirst du noch wissen. Wir haben ihn in der Traumsandfabrik am Meeresboden gefördert. Es gibt sogar einen Film darüber. Von dieser Substanz kann man nie genug bekommen.

Das sagen alle Schlafmittelhersteller. Und dann macht das Zeug doch abhängig.

Darüber kann ich mich nur freuen.

Ich eigentlich auch. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch zum 60.!

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