Schreib mir doch mal!

Nachdenken über Schreiben und Zeichnen mit der ganzen Hand

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 5 Min.

Wir sind Menschen, die voll im Leben stehen. Wir müssen uns eine Menge Fakten merken. Also festhalten. Falls sie uns einfallen, wollen wir Ideen notieren. Damit sie uns nicht verloren gehen.

Eine Vorherrschaft der Rechtshänder hat dazu geführt, dass sowohl die lateinische wie eine sogenannte deutsche Schrift von links nach rechts geschrieben werden. Die überlieferte klassische oder modernere Literatur ist seit Jahrhunderten auf diese Weise über kostbare Dichterhandschriften in Archiven bewahrt.

Da gibt es eine Menge auf den ersten Blick Unleserliches. Dem Dichter wird es nolens volens verziehen. Mediziner oder Pharmazeuten dagegen möchten es schon zweifelsfrei hinkriegen. Etwas ganz Anderes ist dann schon die Unterschrift. Als kürzester Ausdruck der Individualität unverwechselbar zu sein - das ist ihr Privileg. Die Originalität des wörtlich fixierten Namens allein tut es da nicht. Der Unterschrift wird schließlich notariell juristische Bedeutung beigemessen. Die anonymen drei Kreuze gelten da genauso wenig wie ein paar auswechselbare Druckbuchstaben. Flüssig Geschriebenes hat etwas vom individuellen Körperrhythmus. Fast schon so authentisch wie die Maserung des Fingerabdrucks.

Was nun? Muss man sich ewig Mühe geben, die 26 Buchstaben des Alphabets in der Zwangsform einer vorgegebenen Schreibschrift einzuüben? Schönheit als gefällige Form rangiert doch sowieso weit hinter dem, was zweckmäßig ist. Und Zeit ist Geld. Alles muss schnell gehen. Der Mensch der Gegenwart mit seinem beschleunigten Biorhythmus ist inzwischen Welten entfernt von seinen Vorfahren: Jenen seltsamen Menschen, die bedachtsam Briefbögen, Manuskriptseiten oder Formulare mit gestochener Schreibschrift bedecken. Und erst recht jenen endlos zeitfern schreibenden Mönchen des Mittelalters, deren Handschriften kalligrafisch pittoresk daherkommen. Doch hatte dabei nicht bereits ihr ganz persönlicher Ausdruck gottgefällig hintanzustehen?

Die Schaffung der immer wieder modern anmutenden Lateinschrift war ohnehin ein riesiger Glücksfall. Was in antiker grauer Vorzeit ein für alle Mal in die römische Trajanssäule gemeißelt wurde, wirkt seitdem wie eine Gesetzestafel. Ihre geniale Qualität war die klassisch klare Lesbarkeit. Ihr verhängnisvoller Geburtsfehler war ihre geringe Schreibfähigkeit. Die Majuskeln eignen sich vorzüglich für markante Initialen, aber ihre Minuskeln verbinden sich nur widerstrebend zu Wortgebilden.

Es ging also um die Verflüssigung des allzu Kantigen. Die damals agierenden Menschen waren flexibel genug, das zu schaffen. Schließlich schrieben sie zunächst mit der Hand, was sie dann mithilfe fester Lettern druckten. Und wenn es lebhafte Gedanken waren, dann wurde auch der Fluss ihrer Rede schneller.

Ja, Reden und Schreiben sind durchaus vergleichbar. Sprache wird nicht von Buchstabe zu Buchstabe gestottert. Denken hinkt ja auch nicht von Punkt zu Punkt. Denken ist ein vielfältig fließender Prozess. Sprache gibt das in Worten wieder. Die Schrift fixiert es mit Buchstaben, die aber im Verbund mit anderen erst Sinn geben.

Schön, das zu erkennen, oder nicht? Und dass im gesprochenen Wort daraus in Hunderten Weltsprachen ein ganz unterschiedlicher musikalischer Klang erwächst - welch ein Zauber! Geht es da denn nur um die nackte Beschreibung von Fakten?

Heute wird diskutiert, ob man die Schreibschrift in der Schule abschaffen soll. Es ist kein Zufall, dass nun auch in der Kunst die Ratschläge Platz greifen, auf das Zeichnen zu verzichten. Lieber sollte man nach einem Foto, auf einem Foto oder mit einem Foto malen. Was unsere Hand mühsam erlernen muss, sei überholt, heißt es. Denn das schaffe in Windeseile in allerhöchster Qualität die Apparateperfektion von Fotografie und anderen viel komplexeren Wiedergabeverfahren. Das manuelle Herstellen von Kunst wird da offenbar von Geist und Seele abgekoppelt. Man beobachte das Kleinkind - seine zeichnende Hand entdeckt und deutet das erlebte Umfeld. Ob es im Weiteren dann malt oder anders gestaltet, ob es um sich greift und etwas tut, es folgt daraus. Vergessen wir nicht: So kam der Mensch zum Schreiben.

Als Zeichner und Schreiber in einer Person weiß ich um die befreiende Wirkung, meinen rechts aktiven fünf Fingern völlig freie Hand zum Spielen zu lassen. Ich erkenne, dass meine Hand eine eigene Intelligenz hat. Mit Nervenfäden in manche Gehirnwindung. Und mich damit überrascht, was da fast selbsttätig zuwege gebracht wird. Offenbar gibt es dabei sogar eine Rückwirkung auf die Denkfähigkeit anderer Gehirnwindungen.

Der Teufel ruft gern unser Bedürfnis nach Faulheit auf. Und lockt am Ende sogar die Autofahrer von ihren Lieblingswerkzeugen Steuer und Schaltknüppel weg. Angeblich erledigt das der Apparat alleine viel zuverlässiger. Da wird es psychisch wie physisch zugleich bedenklich, wenn uns so nach und nach Körperfunktionen einfach abgewöhnt werden sollen. Nur der tippende Zeigefinger allein soll alles herbeizaubern.

Lesen und Schreiben sind zwei Seiten derselben Sache. Was man nicht zu schreiben vermag, kann man nicht lesen. In Fraktur gedruckte Bücher und in deutscher Kurrentschrift a la Sütterrlin Geschriebenes - wer kann das heute noch lesen? Die vergangene Druckschrift ist ja nur das Eine. Das Andere ist persönlicher. Von Klopstock über Goethe und Schiller zu Heine und Fontane gibt es in Kurrent zauberhafte Handschriften. Waren Hermann Hesse und Rainer Maria Rilke ihre letzten Vertreter? Keineswegs. Bertolt Brecht hat sie kultiviert, indem er alles kleinschrieb.

Kurrentschrift kommt von lateinisch currere, gleich laufen. Die für viele so abartig fremd, weil die so steil und eckig daherkommenden Lettern dieser seit Jahrhunderten in Mitteleuropa üblichen Schreibschrift, richtete der Herr Sütterlin erst 1915 zu der bis 1940 gelehrten Form aus. Was als Vereinfachung angedacht war, litt an der Genaunehmerei. Sie bremste eher, als dass sie Beweglichkeit brachte. Kein Wunder, dass sie nur wenige Jahrzehnte neben der ebenfalls von ihm begradigten Lateinschrift durchhielt. Diese ist inzwischen zur wahren Europaschrift geworden.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!