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Kein Gott denkt sich einen Penis aus
Eine Anthologie über »Fantastische Queerwesen« in der Slam-Poetry
Die Poetry-Slams genannten Dichterwettkämpfe sind aus der heutigen Kultur kaum noch wegzudenken. Dem Publikum bieten sie Unterhaltung (und die Möglichkeit der Teilnahme durch Abstimmungen) und den meist jungen Teilnehmer*innen die Möglichkeit, ein bisschen Ruhm zu ernten. Vielleicht wird auch ein Poetry-Slam zum Sprungbrett für eine Karriere in der Literatur oder im Kabarett.
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Stef/Sven Hensel (Hg.): Fantastische Queerwesen und wie sie sich finden. Poetry Slam goes queer. Satyr, 176 S., br., inkl. 15 Audiolinks, 14 €.
So lohnt es sich, einen Blick in die Anthologien einschlägiger Verlage zu werfen und nach dem nächsten Torsten Sträter oder Nico Semsrott Ausschau zu halten. Der Berliner Satyr-Verlag ist der vielleicht wichtigste Verlag für die deutsche Slam-Poetry, und auch die beiden Herausgeber Sven Hensel und Stef kommen aus dieser Szene, sodass man bei dem Sammelband »Fantastische Queerwesen« ein Höchstmaß an Authentizität erwarten darf. Sie haben 36 Slam-Poet*innen aus dem deutschsprachigen Raum versammelt, unter dem Motto »Poetry Slam goes queer«.
Um die gesamte Bandbreite dieser Literaturgattung abzudecken, sind sowohl Geschichten als auch Gedichte vertreten. Wobei nun mal nicht alle Stilmittel wie Zeilenumbrüche und Wortspiele geschrieben so gut funktionieren wie gesprochen, sodass vor allem lyrische Texte kaum ohne sprachliche Verluste zwischen zwei Buchdeckel gepresst werden können. Erst durch den mündlichen Vortrag (für den sie ja geschrieben wurden) kommen die Qualitäten der Slam-Poetry voll zum Tragen. Gut also, dass zu einigen Beiträgen gleich Audiolinks mitgeliefert werden.
Unter den Autor*innen finden sich sowohl unbekanntere als auch bekanntere Slammer*innen. Zu den letzteren zählen zum Beispiel Christian Ritter (der den Queer Slam Berlin organisiert) und die Oldenburgerin Annika Blanke. Ihnen zur Seite stehen zum Beispiel die österreichische Spoken-Word-Künstlerin Mieze Medusa sowie mehrere Vertreter der Lesebühnen-Szene wie Paul Bokowski und Volker Surmann (der nicht nur Verleger des Buches, sondern auch Mitglied der Lesebühne »Brauseboys« im Berliner Wedding ist).
Man merkt an dieser Aufzählung, dass der queere Poetry-Slam eher eine großstädtische Angelegenheit ist. In den Metropolen ist ja auch die LGBTQ-Szene stark. Und so fühlen sich die Autor*innen auch eher in Berlin zu Hause als beispielsweise in einem oberbayerischen Dorf. »Mancherorts ist es wirklich viel normaler als anderswo«, schreibt zum Beispiel Christian Ritter. »Ich mein, ich leb in Berlin, wenn da sonntagmorgens um zehn ein paar Ledergays mitten auf der Straße ’ne kleine SM-Orgie starten, dann kräht kein Hahn danach. Dann kommt die Berliner Partypolizei und macht mit.«
Das sieht auch Veronika Rieger in ihrem Text »Gekommen, um zu bleiben« so: »Mein Berlin ist nicht nur eine Stadt. Berlin ist mein aus dem Takt gekommener und neu sortierter Rhythmus, mein Metronom, das mir den Beat für den Tag gibt, ein Rhythmus, der so stark ist, dass ich ihn nie wieder verlieren kann. In Berlin lässt man dich sein, was und wer du willst. Und ich, ich wollte einfach nur glücklich und endlich wo zu Hause sein.«
Auffallend ist, dass Humor relativ rar gesät ist - wohl weniger, weil die vertretenen Slammer*innen so humorlos sind, sondern weil sie ihre Situation als Queerwesen nicht immer als amüsant empfinden. Volker Surmann zeigt, dass es auch anders geht: »Was für eine Scheißkonstruktion der Penis doch ist! Wer legt bitte schön den Abwasserkanal mitten durch die Amüsiermeile? (...) Wenn es noch eines Beweises gegen den Kreationismus bedarf, dann ist es wohl doch der Penis! Kein vernunftbegabter Gott kann sich so einen Scheiß ausdenken.«
Auch Anna Teufel beweist wie komisch und selbstironisch Poetry-Slam sein kann: »Nie in meinem ganzen bisherigen, kurzen Frauenleben hätte ich gedacht, dass ich mir mal wünschen würde, ein Mann zu sein, aus dem Grund, weil ich dann jetzt genau in diesem Moment von meiner langjährigen BH-hinter-dem-Rücken-einer-Frau-aufmachen-Erfahrung profitieren könnte.« Im selben Text zeigt sie, dass sie auch einen ausgeprägten Sinn für Poesie hat: »Die Stelle, an der dein Hals in dein Schlüsselbein übergeht, da ist die Haut ganz dünn, und du riechst nach Schnee und nach Sonne gleichzeitig, und wenn du kicherst und mir dabei versehentlich ins Ohr pustest, dann kommt Licht in meinen Kopf.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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