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»Schuld war nicht ich – Der Vergewaltiger bist du!«
Feministische Performance von »Las Tesis« aus Chile wird zur weltweiten Anklage gegen das Patriarchat
Das Künstlerinnenkollektiv »Las Tesis« hat das geschafft, was der Präsident Chiles, Sebastián Pinera, vergeblich versucht – nämlich eine internationale Führungsrolle einzunehmen. Das tratschen dieser Tage Chilenen*innen mit einem ironischen Schmunzeln. Innerhalb einer Woche wurde die Performance »un violador en tu camino« (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) der Künstlerinnen aus der Hafenstadt Valparaíso von Feministinnen in Lateinamerika, den USA, Europa und sogar Australien und Asien nachgemacht, adoptiert und neu interpretiert. Täglich entstehen neue Videos weltweit. Zuletzt in Italien, Indien, Russland und dem Libanon.
»Die rasante Verbreitung hat uns völlig überrascht«, gesteht Daffne Valdés. Die zierliche 31-jährige Schauspielerin gründete Anfang letzten Jahres im Stadtzentrum Valparaisos zusammen mit drei anderen Frauen das Kollektiv. Das Ziel der vier ist es, die Kernaussagen feministischer Autorinnen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Die Performance ist eigentlich Teil einer längeren Intervention, aufgrund der Proteste in den vergangenen Wochen wurde die Erstaufführung aber vorgezogen.
Seit Mitte Oktober finden in Chile landesweit fast täglich Demonstrationen und künstlerische Protestaktionen statt, um dem weit verbreiteten Unmut über die aktuellen gesellschaftspolitischen Verhältnisse Ausdruck zu geben. Die Studentenstadt Valparaíso ist eines der Zentren des Protestes. In der mittlerweile legendären ersten Reihe der Demos, die der Polizei die Stirn bietet, sind viele mutige Studentinnen zu beobachten. Das ist neu und Ausdruck der verstärkten feministischen Organisation der vergangenen Jahre.
Frauen spielten in den letzten Jahrzehnten in der sozialpolitischen Organisation immer eine grundlegende Rolle. Während der Militärdiktatur waren sie es, die die Stadtteile organisierten, auch wenn die Führungsspitze der linken Gruppen und Parteien eher männlich geprägt war. Inzwischen sind die Parteien delegitimiert und soziale Bewegungen genießen immer mehr Ansehen. In solchen nehmen Frauen zunehmend mehr Raum ein. »Bis zu unserer Performance schien die feministische Bewegung zu schlafen, aber das ist ein Trugschluss. Der Feminismus schließt lückenlos an die Forderungen der aktuellen Proteste an«, sagt Paula Cometa, von ihren langen Haaren umweht. Cometa ist ebenfalls 31 Jahre alt, arbeitet als Designerin und Geschichtslehrerin und ist ein weiteres Gründungsmitglied von »Las Tesis«.
Vor gut drei Wochen wurde die Performance in Valparaiso uraufgeführt. Die Organisatoren von »fuego barricadas, acciones en cemento« (kreative Protestaktionen im Format einer Straßensperre in Valparaíso) baten das Kollektiv um einen kurzen, prägnanten Beitrag. »Deshalb haben wir unsere aktuelle Arbeit auf den Punkt gebracht und den Text an die derzeitigen, von Polizeigewalt und Menschenrechtsverletzungen geprägten Verhältnisse angepasst«, sagt Valdés. So enthält der aktuelle Text ein Zitat der offiziellen Hymne der Polizei: »Schlafe in Ruhe unschuldiges Mädchen, sorge dich nicht um den Banditen, dein Freund, der Polizist, wacht über deinen süßen und seligen Schlaf.« Es klingt im Angesicht der aktuellen Anklagen gegen Polizisten wegen sexualisierter Gewalt und Folter an Protestierenden wie beißender Spott.
Kollektiv aus Chile wird weltberühmt
Nach der ersten Aufführung am 20. November wurden die vier Künstlerinnen anlässlich des Tages gegen die Gewalt an Frauen am 25. November mit ihrer Performance in die Hauptstadt Santiago eingeladen. Von da an gab es kein Halten mehr. Das vorher nur in der Szene bekannte Kollektiv ist nun weltberühmt.
Die Schöpferinnen freuen sich über den Erfolg ihrer Arbeit. Gleichzeitig sei das ganze auch erschreckend. Denn es zeige, dass sich Frauen auf der ganzen Welt mit dieser alltäglichen Gefahr, Opfer von Gewalt zu werden, identifizieren, erzählen Mitglieder des Kollektivs im Gespräch mit »nd«. »Die Herrschaftsformen des Patriarchats wiederholen sich in vielen Ländern weltweit und sind mit den nationalstaatlichen Institutionen verbandelt«, sagt Paula Cometa. Erfolgsgrund für die Performance aus der chilenischen Hafenstadt könnte der befreiende Moment sein, bei welchem den Tätern von sexueller oder struktureller Gewalt die Anklage ins Gesicht gebrüllt wird. Die Haltung der Tänzer*innen ist dabei ernst und entschlossen, weder Zögern noch Zweifel sind zu beobachten.
Außer Rand und Band geraten die Perfomer*innen bei der Zeile »Schuld war nicht ich, weder wo ich war, noch wie ich mich kleidete«. Eine eindeutige Stellungnahme gegen das in konservativen Kreisen verbreitete victim blaming, das den Opfern eine Mitschuld am erlebten Missbrauch zuschiebt. Ein Beispiel hierfür ist, dass es noch immer Gang und Gebe ist, nach einer Vergewaltigung eine Frau zu kritisieren: »Sie trug ja auch immer diese Miniröcke« oder »Warum zieht eine Frau auch morgens um drei Uhr in der Früh alleine durch die Straßen« sind gängige Stammtischparolen, nicht nur in Lateinamerika.
Das Ziel der Künstlerinnen, die Kernaussagen feministischer Autorinnen einem breiteren Publikum mit künstlerischen Mitteln zugänglich zu machen, wird eindeutig erfüllt. Den theoretischen Backgrund der Performance haben sich »Las Tesis« bei der argentinischen Anthropologin Rita Segato geholt. In ihrer Arbeit »entmystifiziert« sie den Vergewaltiger, der die vollkommene Verantwortung für seine Tat trage und hebt die Verantwortung staatlicher Institutionen an der systematischen Verletzung der Rechte von Frauen und Minderheiten hervor. Die Nachforschungen des Kollektivs ergaben ähnliches: Die meisten Anzeigen wegen Vergewaltigung und Feminizid verlaufen im Sande der chilenischen Justiz.
Weltweit wird bei der Interpretation der Performance der Text an den jeweiligen Kontext angepasst. So singen Feministinnen in Kolumbien von dem fehlenden Schutz durch den Staat und davon, dass Freundinnen sich untereinander beschützen müssen. In Deutschland wird im Liedtext die internationale Solidarität beschworen. »Diese verschiedenen Blickwinkel sind wahnsinnig bereichernd für unsere Arbeit«, berichtet Cometa aus Valparaíso. Die Performance ist absichtlich interdisziplinär konzipiert, so dass es möglich ist, sie an verschiedene Kontexte und Räume anzupassen. »Wir führen sie auf, wo wir eingeladen werden und manchmal laden wir uns auch selbst ein«, so Daffne. Auf Partys, Märkten sowie Konferenzen, die thematisch angliedern – die Aufführungsorte sind vielfältig und zielen darauf ab, ein möglichst breites Publikum zu erreichen.
Die Rolle der Frauen, des Feminismus und der Kunst sei in diesen Tagen des gesellschaftlichen Protests entscheidend, stimmen Daffne und Paula überein. Denn all die Forderungen der Proteste zielten auf einen strukturellen Wandel ab, auf einen Wandel des Systems. Und da könne der Feminismus einiges zu beitragen, zum Beispiel in der Neuausrichtung der menschlichen Beziehungen. Die kreativen Protestformen erlaubten es, zu diesen tiefgreifenden Botschaften einen einfacheren Zugang zu finden und ein »Wir- Gefühl« zu erzeugen. »Uns nicht allein zu fühlen«, führt Daffne aus. Dieser Zusammenhang hat eine so große Wirkungskraft, dass die Performance mittlerweile auch Generationen zusammenbringt. So versammelten sich am vergangenen Mittwoch 10.000 Feministinnen vor dem Nationalstadium in Santiago, um eine Seniorenversion zu performen.
Die Performance ist nur ein erster Schritt, die strukturelle Gewalt des patriarchalen Systems anzuklagen. In dem Prozess der Ausarbeitung einer neuen chilenischen Verfassung, der nächstes Jahr im April beginnen soll, kann sie aber immer wieder aufgeführt und dazu genutzt werden, dass die Forderungen der Frauen nicht in Vergessenheit geraten.
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