Erkältungslehren des Verhaltens

  • Adrian Schulz
  • Lesedauer: 3 Min.

Leute fragen sich, warum auch »Arbeiter« der SPD abhanden kommen, ihrer guten, alten SPD. Ob öffentliche Toiletten wirklich immer so dreckig sein müssen. Oder ob Studierende es an den durchgulagisierten Universitäten tatsächlich so derart schwer haben, mit ein paar mehr Fristen, Testen, Berichten zu schreiben.

Vorauseilender Gehorsam ist das, was in allen drei Beispielen die Dynamik ins Fatale treibt. Wenn etwas, das man vielleicht insgeheim sogar gar nicht so schlecht fand, sich auf einmal mit großen Sprüngen gen Wirklichkeit aufmacht (und die ist bekanntlich ein Wahrnehmungsgürtel so breit wie eine Gürtelfischkolonie lang: also breit), dann springt man lieber noch ein bisschen mit, als auf dem Boden stehend die Vibrationen sich aufschaukeln zu spüren. Während ich das schreibe, niese ich markerschütternd, alle fünf Minuten, denn ich bin, wie wir alle, schon wieder erkältet. Das kommt davon, dass in unserer Wohnung ohne Not maximal 16 Grad herrschen - kälter sogar als bei Frau und Herrn Sarrazin zu Hause, die sich einst im »Spiegel« mit ihren sparsamen 18 Grad gebrüstet hatten, als Signal an alle Lebensschmarotzer da draußen. Ohne Not, schrieb ich: Denn wir haben eine Heizung. Und manchmal, ja, meistens funktioniert sie auch.

Aber dann kommt noch das »Lüften« dazu. Und der vorauseilende Gehorsam. Immer häufiger erzählen Bekannte von renitenten Vermietern, die im Winter, quasi als Kündigungsvorschuss, die Heizungen runterdrehen, Warmwasser begrenzen. Die schwächsten Menschen in unserer Gesellschaft sind die ohne Wohnung, im Winter geht es ihnen besonders schlecht. Die empfindlichsten Kämpfe drehen sich schon jetzt darum, wie viele zu den jetzt Obdachlosen noch dazukommen; wer seine Wohnung behalten und wie warm sie sein darf, wer nach Wanne-Eickel oder Cottbus ziehen muss. Zugleich kehrt sich im Winter die deutsche Unart des »Lüftens« besonders hervor. Und zwar, so steht zu vermuten, gerade in jenen urbanen Depressionsmilieus, die den Vermietern da draußen am meisten ausgeliefert sind und in denen man zugleich für ein bisschen Wärme angesichts all der Scheußlichkeiten doch erst recht dankbar sein müsste. Schaffen sie es im Sommer beim besten Willen nicht, ihre Räume durch kluge Lenkung des Gasgemischs Luft von gedankentötender Hitze freizuhalten, lassen sie sie im Winter umso lustlos-verklemmter auskühlen, denn »sonst gibt es Schimmel«.

Mit dem Fakt, dass kalte Luft keine Feuchtigkeit aufnimmt, braucht man ihnen nicht zu kommen. »Lüften« ist ein Lebensstil. »Hier ist Kälte beliebt«, heißt es bei Puneh Ansari über den österreichischen Lüftungsterror; und auch im Kaltland selbst hält man sich an eiserne Regeln. So war das schon immer: Befehl ist Befehl. »Früsche Luft« war schon bei unseren Vorfahren hoch im Kurs, wusste Uli Hannemann vor ein paar Jahren zu berichten. Und trotz Klimaerwärmung gilt weiterhin: Es, das Leben, darf nur nicht zu angenehm sein, sonst stimmt etwas nicht, ist etwas faul, ist etwas schimmlig; es, das Leben, muss rausgelüftet werden, bis nur noch Kälte übrig bleibt, nasse, klebrige Kälte, in der die oben genannten Milieus umso authentischer ihre Angst vor der nächsten Zwangsräumungswelle aussitzen und dabei klebrige Zucchinikuchenscheiße ansetzen können, bis sie ihre Elternhäuser im düsteren Teil Süddeutschlands erben und sterben.

Darauf einen Hustensaft. Eisgekühlt natürlich.

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