Harmlos und ahnungslos

In Hamburg steht einer der letzten KZ-Wachmänner vor Gericht. Er beteuert seine Unschuld

  • Folke Havekost, Hamburg
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt nicht mehr viele Menschen, die über die Qualen im Konzentrationslager Stutthof bei Gdańsk berichten können. Einer von ihnen war aus Israel nach Hamburg gereist, um in einem der letzten NS-Prozesse auszusagen. »Wir wurden ständig verprügelt, die ganze Zeit, auch während der Arbeit«, sagte Abraham Koryski am Montag vergangener Woche nach den Worten eines Dolmetschers. Er habe in den Jahren 1944 und 1945 mehrfach erlebt, wie die SS sadistische »Shows« veranstaltete. Ein Sohn habe seinen Vater zu Tode prügeln müssen. Die versammelten Häftlinge sahen zu.

Eines Tages habe der Onkel des Zeugen seiner Frau im Frauenlager eine Zwiebel zugeworfen. Beim Versuch, die Zwiebel aufzuheben, sei die Frau gegen den Elektrozaun gekommen und habe einen tödlichen Stromschlag erlitten. Sein Onkel habe sich danach erhängt, berichtete Koryski. Er war 1944 als 16-Jähriger aus Litauen in das Konzentrationslager gebracht worden. Koryski überlebte Anfang 1945 einen »Todesmarsch« mit 11 800 anderen Gefangenen Richtung Westen, bis ihn die Rote Armee befreite.

Vor Gericht sitzt auf der Anklagebank ebenfalls ein betagter Mann. Ursprünglich sollte in dieser Woche das Urteil im Fall des früheren SS-Wachmanns Bruno D. aus Hamburg gesprochen werden. Doch der Prozess vor dem Hamburger Landgericht wird in das neue Jahr gehen. Der 93-Jährige ist wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 5230 Fällen angeklagt. Die angegriffene Gesundheit des Angeklagten, die einzelne Verhandlungen auf zwei Stunden beschränkt, sowie zahlreiche Zeugenaussagen und Nebenkläger lassen ein Urteil nun nach viereinhalb Monaten Prozess Ende Februar 2020 erwarten.

Der damals 17-jährige D. war von August 1944 bis April 1945 als Wachmann im Konzentrationslager Stutthof beschäftigt, in dem 65 000 Menschen - überwiegend Juden - erschossen, vergast, totgespritzt oder auf andere Weise zu Tode gebracht wurden. Der Angeklagte bestreitet, von den dort geschehenen Verbrechen etwas gewusst zu haben. Er sei zum Wachdienst gezwungen worden und habe »niemandem Leid angetan« oder gar jemanden umgebracht. Darüber hinaus erschüttere es ihn, im Nachhinein vom Massenmord erfahren zu haben.

Diese Aussagen waren nur schwer vereinbar mit D.s eigenen Schilderungen, wie KZ-Insassen in abgeschlossene Räume geführt worden und nie zurückgekehrt seien. Stutthof verfügte sowohl über eine Gaskammer als auch über eine Genickschussanlage. »Wenn Tausende Juden gekommen sind und niemand sie bei der Arbeit gesehen hat, dann haben sie sich doch nicht in Luft aufgelöst«, empörte sich der Zeuge Marek Dunin-Wasowicz, der als polnischer Widerstandskämpfer inhaftiert worden war und im Januar 1945 ebenfalls auf den »Todesmarsch« geschickt wurde.

D. dagegen beschwor: »Die Bilder des Elends und des Grauens haben mich mein ganzes Leben verfolgt.« Über die persönliche Verteidigungsstrategie des Angeklagten hinaus betrachtet, wirkten solche Täter-Opfer-Umkehrsätze im Gerichtssaal schwer erträglich bis obszön.

Die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano kündigte nach einem Gerichtsbesuch Anfang Dezember an, dem Prozess nicht mehr beizuwohnen. Sie könne es nicht ertragen, dass ein Mensch, der im KZ dabei war, behaupte, er habe nichts gesehen. »Wer dabei war, hat alles gewusst, und damit ist er meiner Meinung nach auch schuldig«, sagte Bejarano.

Gerechtigkeit gegen Greise
Erst seit einer Neubewertung durch die Justiz können SS-Wachleute für ihren bloßen Dienst wegen Beihilfe zum Mord verurteilt werden

Gegen D. wird aufgrund seines zur Tatzeit jungen Alters vor einer Jugendstrafkammer verhandelt. Der späte Zeitpunkt des Prozesses erklärt sich aus einer veränderten Rechtsprechung, nach der KZ-Wachleute auch ohne eigenhändige Mordtaten strafrechtlich belangt werden können. Die Staatsanwaltschaft bezeichnet D. in ihrer Anklageschrift entsprechend als »Rädchen der Mordmaschinerie«. Einen Fürsprecher erhielt der Angeklagte in Moshe Peter Loth, der als Kleinkind in Stutthof war. Loth ging im Gerichtssaal auf D. zu und sagte zum Publikum: »Passen Sie auf! Ich werde ihm vergeben.«

Die Zeugenaussage von Abraham Koryski ließ dagegen erhebliche Zweifel daran aufkommen, dass ein junger Wachmann vom täglichen Morden nichts mitbekommen haben soll. Dass Leichen verbrannt wurden, habe man überall vor den Baracken gerochen, sagte Koryski. Außerdem seien die Wachmänner »überall dabei gewesen, nicht nur auf dem Turm«. Öffentliche Hinrichtungen seien zudem direkt gegenüber den Wachtürmen vorgenommen worden.

Unabhängig vom Urteil scheint es unwahrscheinlich, dass D. angesichts seines hohen Alters und des fragilen Gesundheitszustands eine Haftstrafe antreten müsste. Mehrere Nebenkläger betonten, es gehe ihnen auch nicht darum, den Angeklagten hinter Gittern zu sehen, sondern um eine späte Form von Gerechtigkeit auch gegenüber den Tausenden Opfern. Schließlich setzt jeder Prozess auch ein Zeichen für die Gegenwart. »Ich komme nicht, weil ich Rache will«, sagte der Widerstandskämpfer Dunin-Wasowicz: »Sondern weil ich verfolge, wie Nationalismus und Rassismus in vielen Ländern wieder aktiv werden. Davor habe ich Angst.«

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