Die Ohrfeige

  • Justin Sonder
  • Lesedauer: 3 Min.

Verhaftet wurde ich am 27. Februar 1943 im Rahmen der »Fabrikaktion« - ein den Naziterror gegen die Juden verschleierndes Wort. An jenem Tag sollte ganz Deutschland restlos »judenfrei« werden. Ich kam zunächst in ein Chemnitzer Untersuchungsgefängnis, dann ins Lager Dresden-Hellerberg und schließlich nach Auschwitz, wo mir die Häftlingsnummer 105 027 auf den Unterarm tätowiert wurde. »Das wird einmal meine Rentennummer sein, wenn ich wieder zu Hause bin«, habe ich damals spöttisch angemerkt, was ein SS-Mann hörte. Er verpasste mir eine kräftige Ohrfeige: »Was glaubst du, wie du hier rauskommst? Höchstens als Rauch durch die Esse.«

Tatsächlich habe ich Auschwitz nur mit viel Glück und dank der Solidarität von Mithäftlingen überlebt, darunter eines kommunistischen Kapos. Ich bin 16 Selektionen nur knapp entgangen. Und ich wundere mich heute noch, wie ich die barbarische Zwangsarbeit in Auschwitz-Monowitz, zehn bis zwölf Stunden Schufterei für die I. G. Farben, und den Todesmarsch im Frühjahr 1945 überstanden habe. In Wetterfeld in Bayern wurde ich von US-amerikanischen Truppen befreit. Am 23. April 1945. Diesen Tag feiere ich seitdem als meinen zweiten Geburtstag.

Meinen Vater Leo traf ich kurz nach der Befreiung zufällig in einem Wirtshaus im bayerischen Hof wieder, wo wir entkräfteten Häftlinge eine bescheidene Mahlzeit erhielten. Meine Mutter Cäcilie ist in Auschwitz ermordet worden.

Heutige Umtriebe von Rechtsradikalen, Anschläge auf Synagogen, jüdische Friedhöfe und auf Menschen, die sich zu ihrem Judentum bekennen, erinnern mich an meine Kindheit und Jugend, als ich wie ein Aussätziger behandelt wurde - nur weil ich einer Familie jüdischen Glaubens entstammte. Mein Vater ist freiwillig für das Deutsche Kaiserreich in den Ersten Weltkrieg gezogen und war Träger des Eisernen Kreuzes. Das alles zählte unter den Nazis nicht mehr. Als nach einem Fußballspiel Mitschüler mich als ihren erfolgreichsten Torschützen zur Siegerehrung tragen wollten, brüllte der Direktor: »Seid ihr wahnsinnig geworden, einen Juden auf Schultern zu tragen?!« Ich musste die Schule bald verlassen und durfte dann auch nicht meine Kochlehre in Berlin beenden.

Ich war entsetzt, als 1992 das zu DDR-Zeiten im ehemaligen KZ Sachsenburg, unweit von Chemnitz, errichtete Denkmal geschändet wurde und eine »Nationalsozialistische Front Bielefeld« dort Flugblätter abwarf, auf denen gefordert wurde: »Schluss mit den Holocaust-Vorwürfen!« Nach der sogenannten Wiedervereinigung witterten die Faschisten wieder Morgenluft. Deshalb warne ich: Bei aller Freude über den Mauerfall, verliert bitte nicht das Treiben der alten und neuen Nazis aus den Augen! Gleichgültigkeit ist das Schlimmste, sie kann tödlich sein.

Antisemiten und Rassisten muss Einhalt geboten werden. Dies gelingt nicht, wenn man einer antifaschistischen Organisation, der Bundesvereinigung VVN-BdA, die Gemeinnützigkeit entzieht. Im Gegenteil, darüber können sich Rechtspopulisten und Rechtsradikale nur freuen.

Justin Sonder, Jg. 1925, Kriminalist, war mehrfach Zeuge in Prozessen gegen NS-Verbrecher; er ist Ehrenbürger von Chemnitz.

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