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Alte Baustellen, neue Wege
Metallindustrie, öffentlicher Dienst, Bau: 2020 werden weniger Tarifverträge neu verhandelt als 2019, dafür aber in wichtigen Bereichen
Für Pflegekräfte und Neueinsteiger im Landesdienst wie auch Beschäftigte in der Chemieindustrie brachte das Jahr 2019 deutliche Verbesserungen bei Löhnen und Arbeitsbedingungen. Viele andere Beschäftigte profitierten von bereits früher vereinbarten Lohnabschlüssen, sodass insgesamt die Tariflöhne um durchschnittlich drei Prozent gestiegen sind, wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung bilanziert. 20 Millionen Beschäftigte in Deutschland bekamen demnach 2019 eine tarifliche Lohnerhöhung. Angesichts von Verbraucherpreisen, die voraussichtlich um 1,4 Prozent zulegen, haben sie real mehr in der Tasche. Das stabilisiert auch die Wirtschaft, wie keynesianische Ökonomen betonen.
Berücksichtigt man nur die Neuabschlüsse, fallen die Lohnzuwächse nach Rechnung des WSI mit 2,5 Prozent jedoch spürbar niedriger aus. Für Bankangestellte etwa sind es magere Zeiten. Viele Häuser bauen Stellen ab, die Gehälter der Beschäftigten wurden nun sieben Monate eingefroren und steigen bis zum Jahr 2021 zweimal um 2 Prozent.
Deutlich besser lief es im Frühjahr für den öffentlichen Dienst der Länder. Frank Bsirske erzielte hier kurz vor seinem Abschied von der ver.di-Spitze das beste Ergebnis seit Jahren, sprich: mehr Geld für untere und mittlere Lohngruppen, Pflegekräfte und Einsteiger. Zum Jahresausklang war es dann die Chemiegewerkschaft IG BCE, die mit stolz geschwellter Brust ihren Tarifabschluss präsentierte. Das Lohnplus für die 580 000 Beschäftigten ist dafür nicht der Grund, es fällt eher bescheiden aus. Die Gewerkschaft hat an anderer Stelle gepunktet: Zum einen bekommen auch die Chemiebeschäftigten künftig die Wahl zwischen Geld und Freizeit. Mit dem »Zukunftskonto« hat die IG BCE ein komplexes Modell entwickelt, das acht Möglichkeiten definiert, einen persönlichen »Zukunftsbetrag« zu nutzen - ob für mehr Urlaub oder Qualifizierung, ob für Altersvorsorge oder Gesundheitsschutz; auszahlen lassen kann man sich das Geld auch. Abzuwarten ist allerdings, wie das Modell vor Ort angepasst wird. Denn die Betriebsparteien können aus den acht Optionen eine Vorauswahl treffen. Am meisten hatten sich die Unternehmen gegen zusätzliche freie Tage gesperrt.
Medial besonders gefeiert wurde die Chemie-Einigung aber für eine tarifliche Pflegezusatzversicherung, finanziert durch die Arbeitgeber. Ein Novum in Deutschland. Andere Gewerkschaften sind allerdings bislang zurückhaltend in ihrer Bewertung. Sie haben sich offiziell noch keine Meinung gebildet oder suchen - etwa in körperlich harten Branchen - nach guten Regelungen für einen früheren Rentenübergang. Einige wären schon froh, wenn sie überhaupt erst mal auskömmliche Löhne durchsetzen könnten. Thorsten Schulten, der das WSI-Tarifarchiv leitet, rechnet daher nicht damit, dass die Pflegezusatzversicherung schnell Schule machen wird. »Tarifliche Sozialleistungen funktionieren in Branchen, die ökonomisch stark sind und wo Gewerkschaften viele Mitglieder haben«, erklärt er. »Aber das ist nicht verallgemeinerbar.«
Ohnehin ist es unter Gewerkschaftern höchst umstritten, wie wünschenswert es ist, dass ihre Organisationen fehlende staatliche Leistungen ausgleichen. In der IG Metall wird daher seit Langem über die richtige Ausgestaltung von Betriebsrenten gestritten. Zwar macht sich eine Gewerkschaft mit solchen Leistungen attraktiv, zugleich besteht die Gefahr, dass die Politik ganz zufrieden mit dieser Verantwortungsverschiebung ist. Ganz zu schweigen von dem Problem, dass in Tarifverhandlungen noch ein Bereich mehr eingepreist werden muss.
Im kommenden Tarifzyklus dürften daher andere Forderungen im Vordergrund stehen. Mit der Metall- und Elektroindustrie, der Bauwirtschaft und dem öffentlichen Dienst stehen in wichtigen Bereichen Auseinandersetzungen an. Insgesamt werden die Gewerkschaften für gut zehn Millionen und damit für rund ein Drittel aller abhängig Beschäftigten die Löhne und Gehälter neu aushandeln. Die Ausgangsbedingungen sind dabei höchst unterschiedlich - Strukturkrise hier, Hochkonjunktur dort, in manchen Bereichen werden Stellen abgebaut, in vielen wird Personal gesucht.
Richtig los geht es im Frühjahr: Ende März läuft der Tarifvertrag für 3,8 Millionen Metaller aus, Ende April für die gut 600 000 Arbeitnehmer in der Bauwirtschaft. Bei der IG Metall laufen derzeit intern die Diskussionen in den Tarifkommissionen. Sie hat in der letzten Tarifrunde ordentlich was rausgeholt, muss aber nun in einem deutlich schwierigeren Umfeld verhandeln. Ihre wichtigste Stütze, die Automobilindustrie, ist in der Krise. »Beschäftigungssicherung dürfte eine wichtige Rolle spielen«, meint Tarifexperte Schulten. Im Oktober beschloss der Gewerkschaftstag Leitlinien für eine mögliche tarifliche Ausgestaltung der betrieblichen Altersvorsorge, die vor allem festzurren, was nicht passieren darf. Ob es dazu eine Forderung geben wird, ist offen, genauso wie die Frage, was aus den gescheiterten Gesprächen im Osten über die 35-Stunden-Woche folgen soll.
Anders die Situation in der Bauwirtschaft. »Grandios« sei die Lage am Bau im Moment, sagt Carsten Burckhardt vom Bundesvorstand der IG BAU. Er rechnet damit, dass sich dieser Trend auch in den nächsten Jahren fortsetzen wird. Für die kommende Runde schlägt der Bundesvorstand den derzeit stattfindenden bezirklichen Mitgliederversammlungen daher zwei zentrale Punkte vor: zum einen ein deutliches Lohnplus um die 6 Prozent, mindestens aber 160 Euro im Monat. Zum anderen eine Entschädigung für Wegezeiten von zu Hause zur Baustelle und zurück. »Diese können heute 20 oder 30 Kilometer - und nächste Woche mehrere Hundert Kilometer entfernt liegen«, erklärt Burckhardt. Sie gelten in der Bauwirtschaft aber nicht als Arbeitszeit und werden daher nicht vergütet. Das will die Gewerkschaft ändern. Zudem will sie bei der Ost-West-Angleichung vorankommen. Am 20. Februar sollen die Tarifforderungen beschlossen werden.
Für die Öffentlichkeit spürbarer sind üblicherweise Verhandlungen im öffentlichen Dienst. Im zweiten Halbjahr will ver.di für die mehr als zwei Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen deutliche Einkommenssteigerungen durchsetzen. Nach einer Befragung würden 57 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst ein Lohnplus gegen kürzere Arbeitszeiten eintauschen.
Die Tarifkommission, die die Forderungen voraussichtlich im Juni aufstellen wird, dürfte dabei berücksichtigen, dass dieser Wunsch unter Geringverdienern deutlich weniger verbreitet und die Teilzeitquote schon jetzt recht hoch ist. Zudem will die Gewerkschaft bei der Gestaltung der Digitalisierung in die Offensive kommen. Mit Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sind demnach Verhandlungen über einen Tarifvertrag Digitalisierung vereinbart.
Dieser hätte »Vorbildfunktion für den kompletten öffentlichen Dienst - und auch darüber hinaus«, betont ver.di-Chef Frank Werneke. Noch mehr Welle könnte seine Gewerkschaft ab dem Sommer bei Bussen, Straßen- und U-Bahnen machen. Ver.di hat dafür gesorgt, dass die Tarifverträge im zersplitterten kommunalen Nahverkehr richtig getaktet sind, und kann nun ab 30. Juni bundesweit gemeinsam Druck machen.
Neue Wege gehen aber auch kleine Gewerkschaften wie die NGG, die in der Systemgastronomie mit der selbstbewussten Forderung nach mindestens 12 Euro bzw. 28 Prozent mehr angetreten ist, die Zeit der Armutslöhne bei McDonald’s, Burger King und Co. zu beenden. Anders als die großen mitgliederstarken Industriegewerkschaften ist sie in der seit Dezember laufenden Tarifrunde besonders auf eine Öffentlichkeit angewiesen, die ihre Forderung unterstützt.
Eine Herausforderung steht für alle Gewerkschaften gleich: die Tarifflucht zu stoppen. Denn bei allen Tarifverhandlungen in diesem wie im nächsten Jahr sind immer mehr Beschäftigte außen vor. Anders herum: Für immer weniger Beschäftigte und Betriebe gilt ein Tarifvertrag. Aktuelle Entwicklungen wie die Gründung eines Arbeitgeberverbands in der Altenpflege mit dem erklärten Ziel Tarifvertrag sind ein seltener Lichtblick.
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