»Die Musik rettete mir das Leben«

Im Mädchenorchester von Auschwitz: Wie Esther Bejarano den Holocaust überlebte

»Nein«, antwortet Esther Bejarano resolut auf meine Frage, ob sie sich angesichts zunehmender Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen in Deutschland mit dem Gedanken trage, auszuwandern. »Ich werde das Land der Täter doch nicht wieder den Tätern überlassen!«

Es geschieht wieder. Und wie damals vor aller Augen. Als in Nazideutschland Juden diffamiert, diskriminiert, ausgegrenzt, entrechtet, enteignet und ermordet wurden. Wieder werden vor aller Augen Menschen gejagt, beschimpft, bespuckt, mit Mord und Totschlag bedroht, erstochen und erschossen. Juden, Muslime, Ausländer, demokratisch gewählte Politiker. »Das ist ganz, ganz furchtbar«, klagt die Shoah-Überlebende. »Das ist eine Katastrophe. Ich habe keine Worte dafür. Ich erwarte von unserer Regierung und Gesellschaft, dass sie entschiedener einschreiten. Stattdessen wird unsere Vereinigung kriminalisiert«, empört sich Esther Bejarano, die im Herbst vergangenen Jahres einen Offenen Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz geschrieben hat. Aus Protest gegen den Entzug der Gemeinnützigkeit des VVN-BdA. Ja, sie habe von ihm eine Antwort erhalten, »aber die ist persönlich«, betont sie auf meine Nachfrage. Ich hoffe, ihr Schweigen richtig zu deuten.

Die 1924 in Saarlouis als Tochter des Sängers und Lehrers Rudolf Loewy in Saarlouis Geborene, jüngste von vier Geschwistern, wuchs in Saarbrücken auf, wo ihr Vater eine Stelle als Oberkantor der jüdischen Gemeinde angenommen hatte und jüdische Religion unterrichtete. »Meine frühe Kindheit war unbeschwert«, erinnert sie sich. Von Anfang an begleitet sie die Musik. Esther lebt die Musik. Sie singt und steppt wie Shirley Temple, ein US-Kinderstar, Hollywoods Darling. So sagt man über »Krümel«, wie die kleine, zierliche Esther genannt wird. Nach der Ernennung von Hitler zum Reichskanzler sehen sich jedoch auch die Juden in Saarbrücken Repressionen ausgesetzt, die sich verstärken, als das Saarland 1935 an Deutschland angeschlossen wird. Zwei Jahre darauf wandern die beiden ältesten Geschwister aus. Der Vater meint indes, dass der braune Spuk bald vorbei sein wird.

Die Schreckensnacht vom 9./10. November 1938 hat sich in Esthers Gedächtnis tief eingebrannt. Eine SS-Standarte demoliert jüdische Geschäfte, dringt in Häuser und Wohnungen ein, reißt die Menschen aus dem Schlaf, misshandelt und verschleppt sie. Etwa 150 jüdische Männer werden unter Johlen durch Saarbrücken an der von der SS verwüsteten, entweihten Synagoge vorbeigetrieben, die Ende des 19. Jahrhunderts im orientalischen Stil, ähnlich der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin errichtet worden war. Die jüdischen Männer werden gezwungen. vor ihrem geschändeten Gotteshaus zu tanzen und zu singen. Anschließend wird die Synagoge niedergebrannt. Am nächsten Tag höhnt »Die Saarbrücker Zeitung«: »Ein Judenbengel setzte durch seine feige Mordtat an dem deutschen Gesandtschaftsrat vom Rath die ganze deutsche Öffentlichkeit in siedentheiße Erregung und diese Hitze schien sich gestern morgen auf die Synagoge in der Kaiserstraße übertragen zu haben.« Die Verzweiflungstat des polnischen Juden Herschel Grynszpan in Paris, sein Attentat auf den deutschen Diplomaten, hatte Propagandaminister Joseph Goebbels zum Anlass zur Ausrufung des »deutschen Volkszorns« genommen.

Esthers Vater wird mit anderen Juden nach Augsburg gebracht, im dortigen Gefängnis inhaftiert. »Er empfand sich als deutscher Patriot, protestierte gegen seine Verhaftung und erklärte, dass er vier Jahre für sein Vaterland gekämpft hatte. Sie haben ihn nur ausgelacht und angebrüllt: ›Du Saujud, wir pfeifen auf dein Eisernes Kreuz und deine Kriegsverletzung. Halt’s Maul!‹« Esthers Schwester Ruth wird in der sogenannten »Kristallnacht«, wie das Pogrom euphemistisch im NS-Jargon heißt, brutal zusammengeschlagen, sodass sie lange nicht laufen kann. Nach ihrer Genesung verlässt auch sie Deutschland. Esther bleibt mit den Eltern allein in Ulm zurück.

Der Vater hat den Irrtum erkannt. Esther besucht in Berlin eine Aliah-Schule, die auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet. Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges vereitelt das Vorhaben. Esther muss Zwangsarbeit leisten, hat Glück im Unglück, arbeitet in einem Fleurop-Blumenladen in Fürstenwalde. Die Eltern werden gen Osten deportiert. Erst Jahre später erfährt Esther, dass sie im November 1941 im litauischen Kowno (Kaunas) ermordet wurden. Schwester Ruth, die nach Holland floh und dort heiratete, wird nach der Besetzung der Niederlande durch die Wehrmacht »auf Transport« nach Auschwitz geschickt und stirbt dort im Dezember 1942.

Im Jahr darauf wird auch Esther in die »Todesfabrik« im NS-okkupierten Polen geschickt. Zunächst muss sie Steine schleppen. Ihr musikalisches Talent wird bemerkt. Und als für das Mädchenorchester von Auschwitz eine Akkordeonspielerin benötigt wird, meldet sie sich kühn. »Ich konnte nicht Akkordeon spielen, habe aber Klavier gelernt. Und so ist es mir nicht schwer gefallen«, berichtet Esther Bejarano, die fest überzeugt ist: »Die Musik rettete mir das Leben.«

Die Verpflegung ist besser als in den Arbeitskommandos. Beklemmend, bedrückend ist für sie jedoch stets, wenn das Mädchenorchester bei den mörderischen Selektionen an der Rampe aufspielen muss, die Neuankömmlinge mit ihrer Musik über das ihnen bevorstehende grausige Schicksal hinwegtäuschen soll. Trotz günstigerer Versorgung erkrankt Esther an Typhus und Keuchhusten. Im November 1943 wird sie ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verlegt und vier Wochen unter Quarantäne gestellt. Hernach muss sie für Siemens schuften. Als die Rote Armee näher rückt, geht es auf »Todesmarsch«. Am 3. Mai 1945 wird Esther im mecklenburgischen Lübz befreit.

Sie ist das mörderische Deutschland leid, wandert nach Palästina aus, tritt während des israelischen Unabhängigkeitskriegs in Soldatencamps auf, arbeitet später als Kindergärtnerin und gibt Musikunterricht. In Israel kommen Tochter Edna und Sohn Joram zur Welt. Nach dem Sinaikrieg, in dem auch ihr Mann Nissim Bejarano kämpfen muss, entschließt sich die Familie, in die Bundesrepublik überzusiedeln. Man wird in Hamburg heimisch.

»Manche meinen, nach Auschwitz kann man keine Lieder mehr singen, keine Gedichte mehr schreiben, keine schönen Bilder mehr malen. Das ist falsch«, sagt Esther Bejarano. Und begründet: »Mit Musik kann man die Herzen der Menschen öffnen, sie sensibilisieren. Ich möchte mit meinen Liedern dazu beitragen, dass die Erinnerung an das, was wir erlitten haben, nicht erlischt. Wenn mir das gelingt, bin ich glücklich.« Dann fügt sie leise hinzu: »Die Musik ist meine Rache an die Mörder meiner Eltern und Ruth und all die anderen.«

Am Vorabend des diesjährigen Auschwitztages trat sie mit ihrer Band Microphone Mafia, in der Joram den Bass gibt, in Düsseldorf und Buchholz auf. Die Veteranin lacht: »Manche denken beim Namen der Band, wir hätten etwas mit der Mafia zu tun.« Esther Bejarano erzählt: »Einmal sind wir nach Fürth eingeladen worden. Die Vertreter der evangelischen Kirchengemeinde waren schockiert: ›Mit diesen Namen können wir Sie doch nicht ankündigen!‹ Wir bestanden darauf. Als wir in Fürth ankamen, lasen wir verdutzt die Flyer, auf denen stand: ›Microphone Maria‹.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -