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- Horrorfilm »The Lodge«
Im ewigen Weiß
Das moderne Kino des Unbehagens: Der großartige Horrorfilm »The Lodge«, der die bürgerliche Familienidylle zerschlägt, bietet erfreulicherweise eine umfängliche Trostlosigkeit.
Die Bücher werden geradegerückt, ein Glas Rotwein wird auf dem Tisch mitten in der mit Designer-Schnickschnack vollgestellten Wohnung platziert, Kronleuchter, Tischlampe, Zimmerpflanze, alles ist an seinem Platz. Weiße Wände, weiße Gardinen, das Kreuz an der Wand hinter ihr, ein Mittelschichtstraum ganz in Weiß, jetzt kann sie sich erschießen. In dem Moment, in dem das Blut an die Wand klatscht, zuckt sie zusammen, als hätte sie die durchschlagende Wirkung, die Endgültigkeit der Kugel im Kopf überrascht: In den ersten sieben Minuten zerschlägt der Film »The Lodge« die bürgerliche Mutter-Vater-zwei-Kinder-Idylle so restlos, dass hier schon zu ahnen ist: Ein Zurück gibt es nicht.
Ob und inwieweit das auch allegorisch zu verstehen ist, sei dahingestellt: Der neue Film des österreichischen Regieduos Veronika Franz und Severin Fiala beobachtet seine Protagonisten in den folgenden 100 Minuten dabei, wie der Versuch eines Zurück scheitert.
Mit dem Selbstmord der Mutter (Alicia Silverstone) stirbt für ihre mehr oder minder adoleszenten Kinder Mia und Aidan auch die letzte Hoffnung auf eine familiäre Wiedervereinigung. Stattdessen sehen sie sich mit dem Plan ihres Vaters Richard (Richard Armitage) konfrontiert, dass die Kinder - bei einem gemeinsamen Urlaub in der alten Familienhütte fernab der Zivilisation - dessen neue Verlobte Grace (Riley Keough) besser kennenlernen sollen. Grace ist die einzige Überlebende eines Massenselbstmordes der religiösen Sekte, in der sie aufgewachsen ist. So wie Richard das Kleinfamilienideal durch Substituierung der toten Mutter wiederherstellen will, sucht also auch Grace Ersatz für die verloren gegangene Familie, nur spielen Mia und Aidan nicht wie geplant mit und bleiben feindselig. Bald verschwindet der Vater, er muss arbeiten, und lässt die neue Verlobte und die Kinder in der inzwischen eingeschneiten Einöde zurück.
Die Bestürzung, die der Film auslöst, erwächst sowohl aus einzelnen Szenen als auch aus seiner unbarmherzigen Konsequenz. Selten hat man etwa ein kleines Mädchen so bitterlich weinen hören und sehen wie die von Lia McHugh großartig verkörperte Mia und selten einen Vater so unangemessen Unsinn faseln: »Mama würde nicht wollen, dass du weinst, dass du dir Sorgen machst.« Mia besteht jedoch darauf: »Sie kann nicht in den Himmel kommen. Du verstehst das nicht.« Als die Tochter den Vater wegschickt, holt sich ihr Bruder das Bettzeug aus seinem Zimmer, legt sich neben sie. Hand in Hand schlafen sie ein.
Der geschwisterliche Pakt ist damit geschmiedet, und indem Franz und Fiala den Schmerz der beiden gewissermaßen körperlich fühlbar machen, sorgen sie für die nötige Fallhöhe für das, was dann folgt. Denn wo die einmal angerichtete emotionale Zerstörung nicht zu immer neuem Grauen führen soll, wären Empathie, echtes Mitfühlenkönnen gefragt, bewusste Trauerarbeit müsste geleistet und zugelassen werden. Doch dazu ist hier niemand imstande. Wo der Vater es allen Ernstes für akzeptabel hält, die Kinder in dieser Situation alleine zu lassen, noch dazu mit der bei den Kindern verhassten und selbst psychisch labilen neuen Partnerin, noch dazu in einer eingeschneiten Hütte, lässt Grace nichts unversucht, die Sympathie der Kinder zu gewinnen - und bleibt damit, allein auf verlorenem Posten, überfordert. Bald wird die Frage, ob und wie dieses Leben noch vom Tod zu unterscheiden ist, in »The Lodge« zum Thema, an dem sich alles bricht und entscheidet.
Wie schon in »Ich seh Ich seh«, dem letzten Film der beiden Regisseure, steht dabei die Möglichkeit der Versöhnung, des Vergebens und Verstehens immer greifbar im Raum. Es gibt durchaus Annäherungen, etwa zwischen Mia und Grace, oder auch eine Szene, in der man sich gemeinsam einen Film ansieht, in der kurz so etwas wie Harmonie einkehrt - gleichzeitig stehen für den Fall des Scheiterns der Beziehungen Terror, Gewalt und Vernichtung stets beflissen bereit.
So fiebern wir hier nicht mit einer »guten« Figur, die sich gegen das Böse wehren muss, sondern mit der Möglichkeit gelingender Kommunikation, eines Aufeinanderzu- und -eingehens. Der Zuschauer identifiziert sich mit allen Figuren gleichzeitig, während deren an der Unfähigkeit zur Einfühlung und an den eigenen Dämonen scheiterndes Handeln das Grauen selbst produziert. Das Unheimliche liegt in der Unmöglichkeit einer Verständigung.
So wird der Film immer unangenehmer, die Szenerie immer trauriger und wahnhafter, während die Fronten hart bleiben wie die Herzen der beiden Jugendlichen. Nichts an »The Lodge« will den Zuschauer aufmuntern, »mitnehmen«, mit einem guten Gefühl zurücklassen, jedenfalls nicht auf der erzählten Oberfläche. Verstehen funktioniert hier anders: Indem wir als unbeteiligte Zuschauer das können, was die Figuren nicht schaffen, nämlich mitfühlen und die für das grausame Verhalten ursächlichen Verletzungen reflektieren, stellen wir selbst eine mögliche Gegenthese zur umfänglichen Trostlosigkeit des Films dar.
Franz und Fiala sind großartige Gruselproduzenten. »The Lodge« ist träge, alles entwickelt sich gewissermaßen in quälender Zeitlupe. Echte Monster gibt es nicht, aber die Existenz des Übersinnlichen bleibt als Möglichkeit latent. Die von Thimios Bakatakis geführte Kamera, der unter anderem in seiner Zusammenarbeit mit dem Regisseur Yorgos Lanthimos (»The Lobster«, »The Killing Of A Sacred Deer«, »The Favourite«) seine Virtuosität unter Beweis gestellt hat, will alles ganz genau zeigen und ist dabei so lichtscheu wie die gezeigten Vorgänge. Dazu kommt ein eiskalt klirrender Score, der plötzlich sehr orchestral und laut werden kann und zur ungemütlichen Atmosphäre beträchtlich beiträgt.
Die Natur, hauptsächlich bestehend aus ewigem, unüberwindlichem Weiß, bildet indes das eiskalte, unentrinnbare Universum, in und vor dem sich die Tragödie abspielt. Mittendrin die dunkle Hütte, deren Zimmer irgendwie zu klein, zu niedrig, in jedem Fall zu eng sind, und schließlich die Gesichter der Insassen, denen die Großaufnahmen mitunter so nah kommen, dass sie die gesamte Leinwand einnehmen.
Riley Keough gelingt es eindrücklich, Graces Überforderung und Frustration angesichts ihrer immerzu misslingenden Bemühungen sichtbar zu machen, aber auch der junge Jaeden Martell spielt die Rolle des pubertierenden Aidan und dessen Empfindungen gegenüber Grace - zwischen sexuellem Interesse und verzweifelter Abneigung - teilweise gespenstisch überzeugend. Die Szene, in der Grace Aidan zur Rede stellt (»Okay, du willst nicht mit mir reden, aber beobachtest mich beim Duschen«), ist so präzise gespielt, dass einem der Atem stockt.
Der US-amerikanische Filmkritiker Jordan Ruimy erkennt in »modernen Klassikern« des Horrors wie »Hereditary«, »Get Out«, »The Witch« oder »It Follows« eine Wiederbelebung des Genres. »Wer weiß«, schreibt er in seiner Review zu »The Lodge«, »vielleicht werden Filmhistoriker in zehn Jahren noch tiefere Korrelationen zwischen unseren toxischen, unsicheren Zeiten und diesem Kino des Unbehagens und des kollektiven Traumas finden, als wir heute sehen können.« Das könnte wahrscheinlicher sein, als uns lieb sein sollte.
»The Lodge«, USA/Großbritannien 2019. Regie: Veronika Franz/Severin Fiala; Darsteller: Riley Keough, Jaeden Martell, Lia McHugh, Richard Armitage. 112 Min.
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