Die letzte Reise

Milan Peschel inszeniert Heiner Müllers Schauspiel »Die Umsiedlerin« am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Heiner Müllers Schauspiel »Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande« entsprang einem Irrtum des Autors. Er hatte den offiziellen Parteiparolen geglaubt, dass man so etwas jetzt brauche: einen ungeschönten Bericht über das Leben auf dem Lande. Geschrieben hat er es von 1956 bis 1961 mit einem Stipendium, denn Müller galt seinerzeit noch als zu förderndes Talent, nicht als eine zu bannende Gefahr. Franz Fühmann, zu der Zeit noch nicht heraus aus seiner stalinistischen Phase, hatte ein Gutachten über »Die Umsiedlerin« verfasst, das vernichtend war. Las sich dieses Stück nicht, als hätte Beckett persönlich Bodenreform und Kollektivierung auf ewig in Regionen der Sinnlosigkeit verbannt?

Das hätte Müller zu denken geben können, aber er hatte sich in einen höchst antinaturalistischen Rausch hineingeschrieben, in dem er die Geschichte auf toten Gäulen ins Ziel reiten lässt. Reden wir eigentlich über das Schaffen des »neuen Menschen« oder darüber, wie wir neue Menschen machen? Müller redet - in geschliffenen Sentenzen - immer über beides zugleich, zur Unfreude der nicht aussterbenden Biedergeister. In »Krieg ohne Schlacht« erinnert er sich: »Der Spaß bestand auch darin, dass wir böse Buben waren, die dem Lehrer ins Pult scheißen.«

Der Skandal, den »Die Umsiedlerin« verursachte, wäre ein eigenes abendfüllendes Theaterstück. Nichts konnte diese Ketzerei in den Augen von Kulturwächtern wie den SED-Kulturpolitikern Alexander Abusch oder Alfred Kurella rechtfertigen. Da half es auch nichts, dass Müller nicht von einer »Vertriebenen« sprach, denn diese Vokabel galt als revanchistisch, sondern sich an die offizielle DDR-Sprachregelung hielt. Gleich nach der Premiere von »Die Umsiedlerin« lief die Abstrafungsmaschinerie an. Man munkelte bereits bei der Premierenfeier etwas von »Bautzener Gefängnisfestspielen«; der junge Regisseur B. K. Tragelehn kam zur »Bewährung in die Produktion« im Tagebau Klettwitz, wo er immer wieder zusammengeschlagen wurde, weil er die DDR verteidigte. Arbeit als Strafe im Arbeiter- und Bauernstaat. Müller erhielt Schreibverbot. Als sich Stephan Hermlin im Zentralkomitee erkundigte, was man dem Stück »Die Umsiedlerin« eigentlich vorwerfe, bekam er empört zur Antwort, Müller stelle die DDR als Diktatur dar. Hermlin antwortete darauf, das verstünde er nicht, man habe doch eine Diktatur des Proletariats, oder nicht? Das war die Brecht-Position, auf der sich Heiner Müller zu dieser Zeit - noch - befand: »Ich bestehe darauf, dass dies eine neue Zeit ist, auch wenn sie aussieht wie eine blutbeschmierte alte Vettel.« Die Funktionäre dagegen malten sich Idyllen aus und wollten jeden als Feind einsperren, der sagte, was er mit eigenen Augen sehe, sei hässlich.

Im Rückblick wirkt das natürlich wie eine Groteske. Aber eine mit tragischer Grundierung. Also eher ein Requiem auf eine fast vergessene Zeit, mit Kämpfen, an die sich kaum noch jemand erinnern kann. (Es soll auch nicht unbedingt daran erinnert werden, meint der Zeitgeist.) Obwohl deren Ergebnisse - dank einer glücklichen Fügung im Einigungsvertrag, den manche wohl als Fehler ansehen - bis heute Bestand haben. »Junkerland in Bauernland!«, so die Losung der Bodenreform von 1945/46, konnte 1990 nicht infrage gestellt werden, da es Besatzungsrecht betraf.

Die Aufteilung von Flächen über 100 Hektar in Flächen von 5 Hektar, die an Landarbeiter übergeben wurden, war tatsächlich ein Vorgriff auf kommunistische Eigentumsverhältnisse, der - welch ein Wunder - überdauerte. Oder hätte überdauern können. Denn ihren Boden verloren die Bauern bereits zuvor. Die Kollektivierung vollzog sich auf ihrem Höhepunkt 1960 de facto wie eine Enteignung. Fortan hassten die LPG-Bauern den SED-Staat dafür, dass sie bloß noch pro forma Eigentümer waren. Müller gibt den Grundton der Desillusionierung vor - und das scheint subversiv bis heute.

Die Geschichte fährt auch auf dem Dorf Karussell. Junkerland in Bauernhand, Bauernland in Genossenschaftshand - und dann griffen Spekulantenhände zu. Wie erzählt man diese Geschichte?

Milan Peschel, Schauspieler mit Volksbühnen-Hintergrund, selbst bereits erfolgreicher Regisseur (»Sein oder Nichtsein« am Maxim-Gorki-Theater), hat dieses etwas angemoderte Stück, in dem jedoch immer noch mit Wahrnehmungshärte kontrastierter Sprachwitz aufblitzt, in Schwerin (im E-Werk, der Nebenspielstätte des Staatstheaters) auf die Bühne gebracht. Wohl wissend, dass es bereits 1980, als es Fritz Marquardt an der Volksbühne unter dem Titel »Die Bauern« endlich aufführen durfte, weder lebendig noch tot war.

Was also tun? Ein Gespensterstück spielen, eines, in dem die untote Geschichte umherspaziert. Solcherart beachtliches antididaktisches und antinaturalistisches Prä-Beerdigungsstück vollbringt Peschel. Die Schauspieler sind Totengräber ihrer Figuren. Das mit der Zeit Abgestorbene kommt unter die Erde, und dann wird man sehen, ob es noch etwas gibt, was dennoch weiterlebt. Die 13 Schauspielerinnen und Schauspieler (darunter drei Studierende der Rostocker Schauspielschule, Ana Yoffe, Johannes Hegemann und Tom Scherer) demonstrieren selten Gewordenes: starken Ensemblegeist. Großartig, wie von Marko Dyrlich (Flint) und Martin Neuhaus (Beutler) bis zu Flavius Hölzemann, Janis Kuhnt und Stella Hinrichs alle den Riss in der Zeit erforschen, der auch mitten durch ihr Leben geht. Man reißt an der roten Fahne herum, als wolle man prüfen, ob das Material noch hält (ungewiss); man gießt das Bier literweise herunter, denn Bier, so heißt es, ist Geist.

Magdalena Musial verweigert in ihrer Ausstattung klugerweise jede eindeutige historische Verortung. Russischer Bretterzaun zwischen barockem Engels-Portal. Freizeitlook allerorten, gelegentlich folkloristische Zitate. Dies ist ein Exkurs über Geschichte, die zu einer Zeit Möglichkeiten zulässt und zu einer anderen wieder zerstört. Jede Gegenwart aber ist nur wieder eine neue Täuschung, ein Heilsversprechen, das lügt. Peschel spielt die verordneten Hits der Jahre überlaut ein: Oktoberklub! Auch nur eine Maske der Inquisition mit seinem »Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst«. Hartmut König, das wissen die Dabeigewesenen und lassen darüber nicht mit sich handeln, trennen nun mal Welten von Klaus Renft.

Anstelle des roten Fadens gibt es ein anderes, ein tödliches Leitmotiv. Neil Youngs Gitarrenriff aus Jim Jarmuschs Filmepos »Dead Man«. Darin sahen wir Johnny Depp, der, einem Versprechen folgend, bis an einen unwirklichen Ort am Ende der Welt reist, wo man ihm mitteilt, der Grund für sein Hiersein habe sich längst erledigt.

Er wird tödlich verwundet und wir begleiten ihn auf seinem surrealen Trip ins Totenreich. Genau das passiert auch an diesem ebenso formal mutigen wie leidenschaftlich gespielten »Umsiedlerin«-Abend in Schwerin. Eine letzte Reise. Aber was für eine!

Nächste Termine: 22.2. (ausverkauft), 20.3., 28.3.

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