Vertrauen ist besser

Die Europäische Union zwischen Netzkonkurrenten und Handelskriegern.

  • Jochen Steinhilber
  • Lesedauer: 10 Min.

Der Westen gewinnt, und wir gewinnen gemeinsam«, verkündete US-Außenminister Mike Pompeo kürzlich in München. Zu verstehen war dies als Kampfansage - nicht nur an alles, was die USA nicht dem Westen zurechnen, sondern auch etwa an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der die USA ebenso wie Russland und China kritisiert hatte. Die Seismografen für die Stimmung in den außen- und wirtschaftspolitischen Communities - die Münchner Sicherheitskonferenz und das Weltwirtschaftsforum in Davos -, ließen dieses Jahr nicht viel Raum für Optimismus. Allein in den letzten Monaten hat sich die internationale Schlechtwetterfront beträchtlich verstärkt: Der INF-Vertrag über das Verbot landgestützter atomarer Kurz- und Mittelstreckenwaffen ist seit Sommer 2019 Geschichte, das Atomabkommen mit dem Iran kaum mehr zu retten, Großbritannien nicht mehr länger Mitglied der Europäischen Union und der Streit darüber, wer wem Technologie und Energie liefern darf, eskaliert.

Lange Zeit wurde in München und Davos zwar eifersüchtig darauf geachtet, wer die größere politische Prominenz willkommen heißen konnte, aber ansonsten blieben die Konferenzen in ihren eigenen Welten. Dass sich das künftig ändern dürfte, liegt vor allem daran, dass mit der größeren Bedeutung von Wirtschaft als Machtfaktor bei den Großmächten heute kaum noch zwischen Sicherheits- und Wirtschaftspolitik unterschieden wird. Während bei der Sicherheitskonferenz schon länger die »kommende Anarchie« (Robert Kaplan) auf dem Programm steht und immer mehr Krisen im »Bayerischen Hof« heimisch geworden sind, konnte man in Davos trotz Finanz- und Gerechtigkeitskrisen noch auf die (westliche) liberale Wirtschaftsordnung bauen: Der Welthandel nahm weiter zu und die globalen Lieferketten vernetzten immer mehr Regionen und Märkte. Regelverstöße wurden bis vor Kurzem noch effizient durch die Welthandelsorganisation (WTO) geahndet. Selbst wenn die Welt in Aufruhr war, galt vielen die extrem vernetzte globale Ökonomie als robuster Klebstoff, der Freund und Feind noch zusammenhalten konnte.

Die Wirtschaft rüstet auf

Nun ist aber Gefahr im Verzug. Denn die »westlessness«, der Zeitgeistbefund der diesjährigen Sicherheitskonferenz, der in München schon zigmal diskutiert wurde, schlägt sich derzeit am deutlichsten in der globalen Wirtschaftspolitik nieder. Dies betrifft zunächst den Bedeutungsverlust des Westens (und seiner Ordnung) angesichts des ökonomischen Aufstiegs Chinas und anderer asiatischer Länder. Der Handelsstreit mit den USA, aber auch der Umgang mit China offenbart zugleich, dass man sich auch im transatlantischen Bündnis und innerhalb der EU über die gemeinsamen Werte nicht mehr einig ist. Dass sich nun eine härtere Gangart in der globalen Ökonomie durchsetzt, liegt vor allem daran, dass die USA und China, aber auch Russland das ganze Arsenal an wirtschaftspolitischen Instrumenten - Strafzölle, Sanktionen, Rohstoffkontrolle, Investitionen in Infrastruktur und Kreditvergaben - einsetzen, um damit Geländegewinne im Kampf um politischen Einfluss zu erzielen. Mit Protektionismus ist das nur milde umschrieben. Denn tatsächlich geht es um die globale Kontrolle von Handels-, Daten-, Energie- und Finanzströmen, um auf politische Entscheidungen Einfluss zunehmen.

Die Folgen dieser Verquickung von wirtschafts- und sicherheitspolitischen Interessen und Strategien treffen zunehmend auch die EU. Vor allem die robusten Durchsagen von jenseits des Atlantiks, die Trump noch einmal in Davos vortrug, irritieren. So bedeutet »America first« nicht nur den Rückzug einer Ordnungsmacht, die immer weniger Lust dazu hat, sich in Europas Nachbarschaft in Konflikten zu engagieren, die für die US-Bevölkerung weit weg und von geringer Bedeutung sind. Zugleich bekam die EU die neue ökonomische Abschreckungsdoktrin gleich mehrfach zu spüren: In der Handelspolitik erklärte Trump die EU zum Feind - und dies nicht mit Blick auf die aus Sicht der USA ohnehin viel zu leeren militärischen Arsenale in Europa, sondern aufgrund der geringen Exportzahlen amerikanischer Autos. Um nach der Aufkündigung des Atomabkommens den (Öl-)Handel mit dem Iran insgesamt zu unterbinden, machten sich die USA die Dominanz des Dollars als weltweite Reservewährung zunutze. Und mit dem »Gesetz zum Schutz von Europas Energiesicherheit« griffen die USA direkt in den Streit über die Gaspipeline NordStream 2 ein und drohten, um die Fertigstellung noch zu stoppen, den beteiligten Unternehmen und Personen - durchaus erfolgreich - Sanktionen an.

Kampf um die Netze

In Europa gibt man sich gerne der Illusion hin, dass dies alles der Exzentrik des amerikanischen Präsidenten entspringt. Doch das ist ein Trugschluss. Einer der wenigen Punkte, bei dem sich die Republikaner und die Demokraten zurzeit einig sind, ist, dass ökonomische Kräfteverschiebungen mehr denn je sicherheitspolitisch relevant sind. Wer dann eins zu eins zusammenzählt, der kommt schnell auf China, das in den amerikanischen Sicherheitsdoktrinen mittlerweile den »war on terror« als wichtigste Herausforderung abgelöst hat. Dass China im süd- und ostchinesischen Meer gezeigt hat, dass es im Konfliktfall auch aggressivere militärische Töne anschlagen kann, seine Waffenarsenale modernisiert und ausbaut sowie weiterhin hohe Handelsbilanzüberschüsse gegenüber den USA erzielt, sind sicher Gründe dafür. Die Schutzzölle, die zwischenzeitlich Güter im Handelswert von 550 Milliarden Dollar betrafen, wurden mit der Gefährdung der nationalen Sicherheit begründet. Am stärksten bedroht sehen sich die USA jedoch in ihrer digitalen Einflusssphäre. In München warnte die Sprecherin des demokratisch geführten Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, deshalb noch einmal eindringlich vor einer »Sinifizierung« der digitalen Netze. Der Westen, so Pelosi, müsse auch im Netz verteidigt werden. Und mit dem Einsatz von Technologie des chinesischen Netzausrüsters Huawei würden zugleich autokratische Werte eingekauft.

In Europa und vor allem in Deutschland überwog lange Zeit die Ansicht, dass China in Teilen zwar ein unfairer Wettbewerber sei, dass das Reich der Mitte dennoch relativ friktionslos und zum Vorteil der EU in die globale Ökonomie integriert werden konnte. Der Streit steht nun beispielhaft für das, was mit Blick auf die chinesisch-amerikanische Rivalität auf Europa künftig zukommen könnte. Denn hier geht es nicht nur um Spionage, sondern um die Frage, wer künftig die Netze und ihre wichtigsten Technologien kontrolliert. China und die USA teilen sich heute nicht nur den Löwenanteil der digitalen Märkte, sondern verfügen auch über 75 % der öffentlichen Cloud-Kapazitäten sowie über die wenigen Digitalkonzerne, die das Kapital und die Datenmasse für die Weiterentwicklung von künstlicher Intelligenz aufbringen können. Beide Seiten erwarten von den europäischen Ländern eine Entscheidung, die, je nachdem wie sie ausfällt, dann auch ökonomisch oder politisch vergeltet wird. Im Falle Huawei werden die meisten Länder den günstigen chinesischen Anbieter nicht aus dem Markt ausschließen. Großbritannien hat gerade entschieden, die chinesische Technologie in weniger sensiblen Bereichen einzusetzen, Deutschland ist noch unentschieden. Eine gemeinsame Antwort an die USA und China fällt der EU jedoch schwer. Denn jedes Land verfolgt seine eigene, durchaus unterschiedliche Digitalstrategie und erschwert damit nicht nur den Aufbau »europäischer Champions«, sondern auch eine intensive Kontrolle der Anbieter.

Auch an andere Stelle bräuchte es Einigkeit innerhalb der EU. Denn die langen Wege der »Belt and Road Initiative«, der neuen Seidenstraße, reichen bereits bis nach Triest und Duisburg-Rheinhausen. Mit einem geplanten Investitionsvolumen, das mit einer Billion US-Dollar ungefähr zehnmal so groß wie der Marshallplan ist, und über eigene Entwicklungsbanken versucht China nicht nur Absatzmärkte zu erschließen und Rohstoffvorkommen zu sichern. Das eigentliche strategische Projekt ist die Etablierung von chinesischen Standards für eine neue Wirtschaftsordnung. Italien hat als erstes G7-Land ein Memorandum mit China unterschrieben, Griechenland und Ungarn haben, zum Beispiel in Menschenrechtsfragen, bereits zugunsten Chinas interveniert. Eine Politik der Entkopplung von China, wie sie in den USA teilweise gefordert wird, ist keine Option für Europa. Die EU darf sich von keiner Seite ein ökonomisches und politisches Nullsummendenken aufzwingen lassen. Um aber in der chinesisch-amerikanischen Konfrontation einigermaßen unbeschadet zu bestehen, braucht es eine gemeinsame europäische Linie, auf die sich die Partner einstellen können. Der im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft geplante EU-China-Gipfel ist eine gute Gelegenheit, um hierüber Klarheit zu schaffen.

Wie soll sich die EU in dieser Welt der »Frenemies« verhalten, wie die »Zeit« jüngst titelte, der doppelgesichtigen Freund-Feind-Partner, mit denen eine Zusammenarbeit unverzichtbar ist, die jedoch immer schwieriger wird? Angesichts dieser Komplexität wächst bei manchen wieder die Sehnsucht nach deutlicheren Konturen und neuen Feinbildern, die Orientierung versprechen (und vor allem die Wähler*innenbasis mobilisieren). Dem Drang nach neuer Klarheit entspringen auch die immer wieder neu aufgelegten Debatten über »geopolitisches Denken«. »Weltpolitikfähig« kann die EU nach dieser Lesart nur dann werden, wenn sie die neuen geopolitischen Realitäten anerkennt (was richtig, aber zumindest widersprüchlich ist) und dann auch selbstbewusster »geopolitisch handelt« (was meistens vage bleibt). Soll eine Anverwandlung Europas, das Denken in Einflusssphären und Abgrenzung nun tatsächlich der Ausgangspunkt für Europas neue Rolle in der Welt sein? Wohl kaum. Mit dem Postulat einer »geopolitischen Kommission« ist also noch nichts gewonnen.

Green New Europa

Sich aus dem Zangengriff zwischen dem Zugang zum Zukunftsmarkt China und der ökonomischen Sicherheitspolitik der »unverzichtbaren Nation« (Madeleine Albright) zu befreien, ist keine einfache Aufgabe für die EU. Hinzu kommt, dass die EU mit Großbritannien innerhalb der nächsten Monate den Scheidungsvertrag verhandeln muss, bei dem auf beiden Seiten die künftigen Beziehungen zu den USA und China eine wichtige Rolle spielen werden. Aber die EU sollte auch nicht in Angststarre verfallen, denn sie kann einiges in die Waagschale werfen.

Ja, die EU muss viele schwierige, originär sicherheitspolitische Fragen klären. Dazu gehören eine höhere Effizienz in der Außenpolitik durch Mehrheitsentscheidungen sowie der Dialog mit Russland, ohne die Bedrohungswahrnehmungen der baltischen Staaten zu übergehen, und generell die Frage, wie mit dem wahrscheinlichen Ende der von den USA »geborgten Sicherheit« umzugehen sei. Aber das ewige Mantra des Zwei-Prozent-Ziels der Nato und die zahlreichen geistigen Einberufungsbescheide aus den Strategiestuben Europas verdecken, dass viel entscheidender für Europas künftige Rolle in der Welt ist, ob es gelingt, jetzt den eigenen »Raum« zu gestalten: zum Beispiel den von der Kommission angekündigten Green New Deal CO2-neutral, sozial gerecht und solidarisch zwischen den Mitgliedsstaaten umzusetzen. Scheitert dies, dann wird der Plan zum nächsten (sozialen) Spaltpilz der europäischen Gesellschaften und schürt weiter das Misstrauen der von Kohle abhängigen osteuropäischen Mitgliedstaaten. Gelingt er jedoch, dann hat Europa ein Projekt, das es ökonomisch mit den USA und China aufnehmen und die globalen Märkte prägen kann, das eigene technologische Innovationen befördert, gute Arbeit und Anlagemöglichkeiten schafft, die die globale Rolle des Euro stärken.

Es ist richtig, dass die Überlegungen für eine europäische Dateninfrastruktur noch in den Anfängen stecken. Aber der größte Markt der Welt sollte auch hier in der Lage sein, Standards zu setzen, etwa mit der Datenschutzgrundverordnung, die einen deutlichen Unterschied zum neoliberal amerikanischen wie zum autoritär chinesischen Weg markiert. Oder durch ein modernes Wettbewerbsrecht, das die digitalen Monopole in den Blick nimmt.

Und schließlich ist die EU durch ihre permanente Kompromissakrobatik zwischen den jetzt 27 Mitgliedstaaten geradezu prädestiniert, in einer ambivalenten und durch Misstrauen regierten Welt nach gemeinsamen Interessen zu fahnden. Statt einer Geografie der Abgrenzung das Wort zu reden, muss sich Politik wieder stärker der Vertrauensbildung annehmen. Denn nach innen ist Vertrauen die Vorbedingung für eine geschlossene Haltung der EU und nach außen ist sie die Grundlage jeder Kooperation. Statt sich in der scheinbaren Eleganz einer »grand strategy« zu verlieren, muss hierfür eine konkrete, aktive und präventive Diplomatie betrieben werden, die Verantwortung übernimmt und sich auf die Suche nach pragmatischen »Inseln der Kooperation« macht. Und es braucht, von der Rüstungskontrollarchitektur über den Nato-Russlandrat bis zum blockierten WTO-Schiedsgericht die Instandsetzung und Belebung bestehender Institutionen, da hier Vertrauen und Transparenz am nachhaltigsten aufgebaut werden kann.

Vertrauen, Verfahren, Verträge - das mag in den Ohren der neuen Geopolitiker lahm daherkommen. Aber im Handgemenge mit den Mehrdeutigkeiten der konkreten Welt kommt es auf die kleinen, jedoch richtigen Schritte an. Auf Befreiungsschläge sollte besser keiner setzen.

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