Dysfunktional und defizitär
Ronny Heidenreich analysiert die DDR-Spionage des BND von den Anfängen bis zum Mauerbau
Werden die Kommunisten das für Pfingsten 1950 angesetzte Deutschlandtreffen der FDJ nutzen, um Westberlin einzunehmen? Bereiten sich die Regimenter der Kasernierten Volkspolizei darauf vor - getarnt im Blauhemd -, diesen imperialistischen Stachel im Fleisch der sozialistischen DDR zu eliminieren? Im Westen hielt man das für denkbar, denn der Kalte Krieg nahm Fahrt auf in Europa. Die kreuzgefährliche Berliner Blockade war erst seit wenigen Wochen überstanden. Und noch war der Eiserne Vorhang durchlässig. Doch beiderseits gab es Überlegungen zu Korrekturen der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beschlossenen Einflusszonen der alliierten Siegermächte.
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Ronny Heidenreich: Die DDR-Spionage des BND. Von den Anfängen bis zum Mauerbau.
Ch. Links, 704 S., geb., 50 €.
»Sollen doch die von uns bezahlten Gehlen-Leute herausfinden, wie groß die Gefahr ist«, dachte man sich damals bei der CIA. Doch die von der Pullacher Zentrale des BND 1950 ausgelöste Operation »Baldur« geriet zum Desaster. Obwohl man alle verfügbaren V-Leute einsetzte, bekam man nichts heraus. Die Ausrede der westdeutschen Geheimdienstler lautete: Entscheidungen von derart weltpolitischer Bedeutung würden ausschließlich im Kreml getroffen. So hätte auch »eine intensivere Penetrierung der ostzonalen Führungsstellen … keinen definitiveren Aufschluss gegeben«. Die CIA hatte bessere Quellen. Sie erfuhr immerhin, dass der sowjetische Stadtkommandant, General Alexander Kotikow, der FDJ-Führung jegliche Störaktionen zu Pfingsten 1950 in Westberlin schlicht verboten hatte.
Diese Episode, eine von vielen Pannen bei der Organisation Gehlen, aus der 1956 der Bundesnachrichtendienst (BND) hervorging, beschreibt Ronny Heidenreich in seinem Buch über die frühe DDR-Spionage des BND, das als Band 11 einer Reihe firmiert, mit der die Unabhängige Historikerkommission zur Geschichte des Bundesnachrichtendienstes einen wichtigen Beitrag zum Begreifen deutscher und europäischer Nachkriegsgeschichte leistet.
In der Edition werden vielfältige Kontinuitäten zwischen dem Auslandsgeheimdienst der Adenauer-Republik und Hitlers Spionen dokumentiert. Der jüngste, von Heidenreich verfasste Band ist - wie üblich - sehr materialreich. Korrigiert wird hier einmal mehr die weit verbreitete Annahme, dass Spionage in der Ostzone und der späteren DDR der operative Kern des vom ehemaligen Wehrmacht-General Reinhard Gehlen geführten Dienstes war. Dieser Irrtum ist bereits in den vorherigen Bänden der von Rolf-Dieter Müller, Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang Krieger und Jost Dülffer herausgegebenen Reihe widerlegt worden. Die Organisation Gehlen, kurz: Org., und später der BND bespitzelten vielmehr die bundesdeutsche Opposition; als antikommunistische Agentur nahm er Einfluss auf die Regierungsarbeit in Bonn und trieb die westdeutsche Wiederbewaffnung voran.
Heidenreich analysiert die Militär- und Wirtschaftsspionage sowie das Ausspähen politischer Intentionen. Großen Raum nimmt die Gegenspionage ein. Auf rund 250 Seiten wird die Etablierung der Org. von 1946 bis zum Gründungsjahr der DDR 1949 dargestellt. Vergleichbar ist der Umfang der Passagen, in denen die Zeit vom Koreakrieg bis zu einem ersten Höhepunkt des Geheimdienstkrieges 1953 beleuchtet wird. Auf etwas mehr Seiten befasst sich der Autor mit der offiziellen Bestallung des BND zum Auslandsgeheimdienst der Bundesrepublik und mit dessen Arbeit bis zum Mauerbau 1961.
Egal ob der Leser dies- oder jenseits der Elbe aufgewachsen ist, dieser Band bietet ihm - gestützt auf das relativ weit geöffnete, doch offenbar ungepflegte Archiv des BND - eine Fülle von Informationen. Im Westen galt der Dienst vor allem dank eigener Propaganda als erfolgreich. So wird manch West-Leser nun vermutlich erstaunt sein ob der extremen Ineffizienz und Inkompetenz des Dienstes in Bezug auf die DDR. Für Ost-Leser wiederum ist es höchst interessant, die verschiedenen Entwicklungsphasen der DDR durch die Brille des BND zu betrachten. Detailliert beschrieben werden die »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit«, die Ostbüros der Westparteien sowie das höchst widersprüchliche Befragungswesen, mit dem DDR-Flüchtlinge in der Bundesrepublik Bekanntschaft machten.
Heidenreich bewertet die Arbeit von Org. und BND als »dysfunktional und defizitär«. So gelang es Gehlens Anwerbern nur mäßig, Quellen in der DDR anzuzapfen. Man war schon froh, wenn man einen Heizer auf einem Militärflugplatz, eine Putzfrau bei einem sowjetischen General oder eine Sekretärin bei der Staatlichen Plankommission rekrutieren konnte. Dafür gab es kurzfristige Einblicke in den Uranbergbau der Wismut - und offenbar waren Reichsbahner extrem anfällig für Anwerbungen. Top-Quellen jedoch konnte die Organisation nur wenige gewinnen. Und wenn, dann wurden diese »verheizt«.
Die oft leicht zu entdeckenden Aktivitäten des Gehlen-Dienstes lieferten der DDR-Führung immer wieder Anlässe für den Ausbau des Überwachungsstaates. In Schauprozessen ausgesprochene Todesstrafen sollten abschreckend wirken. Die von BND-Statistikern errechnete Verhaftungsquote eigener Leute in der DDR stieg im Laufe der Zeit kontinuierlich. Dass sie ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht weiter anwuchs, wurde als Erfolg gewertet. Doch hatten da MfS und KGB bereits genügend Informanten in BND-Strukturen installiert und waren dadurch bestens im Bilde; Verhaftung wurde durch Observation ersetzt. Zudem reihten sich zunehmend mehr BND-Zuträger in die Flüchtlingswelle gen Westen ein, womit sie für die Spionage in der DDR ausfielen.
Am Tag des Mauerbaus führte der BND gerade einmal 235 Gewährsleute in der DDR - knapp halb so viele wie 1954. Heidenreich kommt zu dem Ergebnis, dass die Hochzeit der DDR-Spionage am Vorabend der BND-Gründung 1956 bereits Geschichte war. Die Fähigkeiten des Dienstes genügten fortan nicht mehr »für eine allumfassende Lagebeurteilung«.
Nach der Lektüre von Heidenreichs Erkenntnissen wundert man sich nicht mehr, dass der Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR für die Org. eine Überraschung war; nach Gehlens Überzeugung sei dieser gar von den Sowjets selbst initiiert worden. Auch die Schließung der Grenze zu Westberlin am 13. August 1961 war für den BND nicht vorab erkennbar. Wenige Tage zuvor hatte man in der Pullacher Zentrale eine solche Maßnahme sogar als »immer unwahrscheinlicher« eingeschätzt.
Trotz der nüchternen Distanz des Historikers ist dieses Buch stellenweise hoch spannend. Der arg klein gehaltene Blocksatz verlangt dem Leser allerdings viel ab. Aber das gilt für die gesamte Reihe.
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