Poesie und Prosa auf den Fantribünen

Warum eigentlich tun sich die Ultras den Profifußball, den sie so heftig kritisieren, noch an, fragt Christoph Ruf

Die Fankurven hatten auch am Wochenende wieder vieles mitzuteilen. Und siehe da, diesmal dürfte jeder, der lesen kann, verstanden haben, worum es ihnen ging. Dass das in der vergangenen Woche nicht jedem gelang, müssen sich die Kurven auch selbst zuschreiben. Weite Teile der Gesellschaft empfinden Schimpfwörter eben nicht als Aufforderung zum Dialog.

Doch das ändert nichts daran, dass die Republik in den vergangenen Tagen mal wieder genussvoll in kollektive Hysterie abgetaucht ist, um sich anschließend zu besinnen und festzustellen, dass das Abendland doch noch steht, man noch ein Apfelbäumchen pflanzen kann, und die Russen noch nicht im Keller sind. Und das, ohne dass man ein paar hundert »Chaoten« in Schnellverfahren zu Haftstrafen abgeurteilt hätte, weil sie das Wort »Hurensohn« im Munde geführt haben.

Auch unter denen, die für den Versuch warben, sich mit den Anliegen der Ultras zumindest zu beschäftigen, waren ja auch viele Menschen, die mit Messer und Gabel essen, das Wort »Hurensohn« selbst nicht öfter im Mund führen als das ausgeschriebene Wort für DNS (Desoxyribonukleinsäure) und deren Sensibilität weit genug reicht, um Parallelen zwischen faschistoider Ästhetik und einem Menschen im Fadenkreuz zu sehen.

Es ging und geht beim Versuch, die Fanseite zu verstehen, darum, ob es eine angemessene Reaktion ist, 3000 Gästefans nur deshalb den Zugang zu einem Fußballspiel zu verunmöglichen und einige weitere zu verklagen, weil man sich aus deren Mitte (oder von deren Rändern?) beleidigt fühlt. Wer das bejaht - was erstaunlich viele Menschen tun -, muss es auch angemessen finden, wenn alle anderen Menschen jeden vor Gericht zerren, von dem sie sich beleidigt fühlen. Weil er ihnen auf dem Fahrrad den Vogel gezeigt hat, sie als A*** oder W** bezeichnet hat. Oder eben als H**. Derjenige muss dann allerdings auch in Kauf nehmen, dass Gerichte dann nicht mehr zu ihrer eigentlich viel wichtigeren Arbeit kommen.

Ich war am Samstag in Freiburg, wo der DFB in der Heimkurve als Abkürzung für »Dietmars Fußball Verband« bezeichnet wurde und Artikel 1 GG in »Die Würde eines Milliardärs ist unantastbar« umgedeutet wurde. Beides ist polemisch überspitzt, benennt aber ein Problem. Als Dietmar Hopp eine komplette Fankurve beschallen ließ, um das böse Wort nicht hören zu müssen und mehrere BVB-Fans über Hörbeschwerden klagten, gab es kein Verfahren, der DFB schwieg still. Und auch als der eigene Nationalspieler Timo Werner vom eigenen Nationalmannschaftspublikum (und natürlich auch in Hoffenheim) als »Hurensohn« besungen wurde, beließ man es bei Erklärungen, dass man das nicht gutheiße. Damals war beim DFB Reinhard Grindel Präsident, zurücktreten musste der später wegen eines angenommenen, aber nicht deklarierten Uhrengeschenks. Ein Missgeschick, das 2013 schon Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge unterlief, der bei der Rückreise aus Katar vergaß, zwei Rolex-Uhren anzugeben. Auch dazu fiel den Freiburger Fans am Samstag ein Spruchband ein: »Pardon, in euren Kreisen spricht man wohl von Uhrensohn.«

Den immanenten Vorwurf der »Doppelmoral« hatten die Kurven bereits bei den jüngsten Pokalspielen erhoben. Das Dortmunder Online-Fanzine »Schwatzgelb.de« merkte an: »Wir reden über den DFB und die DFL, die Repräsentanzen in China unterhalten. Selbst die Meldungen, dass dort der Volksstamm der Uiguren massenhaft zur ideologischen Umerziehung inhaftiert wird, hat zu keiner Protestnote geführt.« Und die »tief betroffenen Bayernspieler« würben für Katar. Es geht den Fans also nicht darum, Hopp isoliert zu betrachten, die wenigsten sind so doof zu glauben, dass es eine hehre, dem Sport verpflichtete Welt der Traditionsvereine gebe und eine böse, die dann wieder untergeht, wenn Red Bull und Hoffenheim verschwinden. Der »ganze Profifußball« liege »moralisch am Boden«, schreibt »schwatzgelb.de«. Es sei »breitflächig akzeptiert, dass man Gelder auch aus den moralisch zweifelhaftesten Quellen annimmt«.

So kann man das sehen. Doch mit dieser Feststellung poppt die vielleicht offensichtlichste Frage auf, die man jetzt den Ultras stellen müsste: Warum sie sich den Profifußball überhaupt noch mit so viel Leidenschaft antun. In den Landes- und Bezirksligen der Republik ist jeder Zuschauer herzlich willkommen. Und Uhrensöhne gibt es dort auch nicht so viele.

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