Eingefroren im Eis

Das Forschungsschiff »Polarstern« driftet von Westsibirien am Nordpol vorüber bis nach Grönland

  • Gert Lange
  • Lesedauer: 6 Min.

Es ist eine Expedition der Superlative. Tausende begeisterte Fans lesen im Internet die Wochenberichte und die Blogs, kommentieren sie, stellen Fragen. Noch nie hat ein moderner Eisbrecher mit einem weitläufigen Forschungscampus ringsum den gesamten Winter im nördlichen Eismeer zugebracht. In der ostsibirischen Laptewsee eingefroren, driftet das schwimmende Observatorium »Polarstern« am Nordpol vorbei bis zur grönländischen Küste. Etwa 600 Wissenschaftler und Techniker aus 20 Ländern sind beteiligt. Eine internationale Flotte von vier Eisbrechern versorgt die sich abwechselnden Teams. Es ist nicht übertrieben, wenn das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (Bremerhaven), die Schaltzentrale des aufwendigen Unternehmens, von der »größten Arktisexpedition aller Zeiten« spricht.

Am 20. September 2019 verlässt das deutsche Forschungsschiff den norwegischen Hafen Tromsø. Es ist 20.30 Uhr, der Himmel bedeckt, die Stimmung an Bord elektrisiert, voller Erwartungen. Die erste Crew wird von Markus Rex geleitet, einem Potsdamer Atmosphärenphysiker, der Anfang der 1990er Jahre eine internationale Messkampagne angeregt und koordiniert hat, die den Anteil des vom Menschen verursachten Ozonverlustes in der Arktis quantifizieren konnte.

Die passende Eisscholle

Die Suche nach einer geeigneten Eisscholle, gemeinsam mit dem russischen Eisbrecher »Akademik Fedorov«, gestaltet sich schwierig. Satellitenbilder werden ausgewertet, 16 Schollen mit Helikoptern angeflogen und untersucht. Schließlich macht »Polarstern« auf der Position 85°07' Nord 138°05' Ost an einer genügend massiven Scholle fest. Sie ist 2,5 mal 3,5 Kilometer groß, hat einen Kern dicht gepressten Eises und an den Rändern dünnere Bereiche.

Erste, mit einem natürlichen Risiko verbundene Herausforderung: der Aufbau des Forschungscamps auf dem Eis. Eine »Infrastruktur« mit Mess- und Probennahmestationen entsteht. Grüne Wimpel markieren die Wege. 5300 Meter Stromkabel, 2500 Meter Signalkabel müssen verlegt werden. Ein Mi-8-Hubschrauber setzt den schweren Stromverteiler aufs Eis. Auf bis zu 40 Kilometer entfernten, fragilen Eisschollen wird ein komplexes System aus 125 Bojen und autonomen Messeinheiten ausgebracht. Deren Daten gelangen per Satellit direkt in die Computer. Auch diese Außenposten müssen mit Strom versorgt und manchmal repariert werden.

Ab Mitte Oktober ist es stockdunkel. Und das Eis ist ständig in Bewegung. Unmittelbar neben dem meteorologischen Mast reißt das »Fundament«, das eigentlich nur in der Fantasie existiert. Immer wieder bilden sich Risse, verschieben sich Schollenteile, krachen neulich aufeinander, sodass sich hohe Presseisrücken bilden. Teile des Stromnetzes werden begraben, sichere Wege blockieren. Bei der Station »Oasis« haben Meeresphysiker mit viel Mühe ein 1,5 mal 1,5 Meter breites Loch ins Eis gebohrt, damit sie einen ferngesteuerten Unterwasserroboter hinablassen können. Der Schnee wird geräumt, ein Holzboden als Fundament für das Schutzzelt gelegt. Wasserproben bis zur Tiefsee sollen entnommen, Salzgehalt, Chlorophyll, Lichtverhältnisse und mit der Kamera das Leben unter Eis untersucht werden. Aber über Nacht trennt ein Riss die Station von der »Polarstern«, sie treibt ab. »Oasis« muss per Helikopter gerettet und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden.

Kein Team wird von den Naturgewalten verschont. Am 18. November verschiebt ein heftiger Sturm Teile des Eiscamps um Hunderte Meter. Der dreißig Meter hohe Teleskopturm der Meteorologen, mühselig bei minus 35 Grad errichtet, knickt um. Drei Stationen werden zeitweise vom Schiff getrennt. So mühsam die Behebung der Schäden ist - in wissenschaftlicher Hinsicht gehört der Sturm zu den Höhepunkten der Expedition. »Noch nie sind die Auswirkungen solcher Stürme auf die Stoffflüsse und das arktische Klima so umfassend dokumentiert worden«, sagt Markus Rex.

Dabei arbeiten alle nur im Licht der Suchscheinwerfer, so weit sie reichen, und im schmalen Kegel von Stirnlampen. Eine Infrarotkamera und Radaranlagen überwachen vom Schiff aus die Umgebung. Eisbärwächter sorgen dafür, dass die beliebten Fotomodelle sich wieder trollen. Sobald ein weißer Petz auftaucht, müssen zumeist alle Mitarbeiter an Bord. Mancher Bär findet die Gerätschaften in seinem Lebensraum interessant und richtet beim Stöbern Schaden an. Einmal knabbert ein Polarfuchs an den Stromkabeln, sodass die meteorologische Station vom Netz getrennt wird.

Selbstverständlich wird die Tragfähigkeit des Eises ständig geprüft. Einerseits durch elektromagnetische Dickenmessungen - eine schweißtreibende Fußtour mit Sende- und Empfangsgestänge in der Hand, wie der Autor einmal an der Seite von Christian Haas (Leiter des zweiten Fahrtabschnitts) erleben durfte. Andererseits mit dem sogenannten E-Bird, der an einem 30 Meter langen Seil per Hubschrauber über das Eis geflogen wird und wegen der tiefen Temperaturen geheizt werden muss. Mögen Statistiken für Publikationen noch genauer auszuwerten sein, als empirisches Ergebnis kann schon jetzt festgehalten werden: Es gibt kaum noch mehrjähriges Eis. Statt mindestens 1,5 Meter Eisdicke, wovon die Planung ausgegangen war, ist das Eis mit nicht einmal einem Meter ungewöhnlich dünn, wobei nach dem letzten warmen Sommer die untere Schicht schwammartig durchlöchert und wenig stabil ist. Solche Untersuchungen vor Ort sind unerlässlich, weil sie Bezugsdaten liefern, die erst eine korrekte Interpretation der Satellitenmessungen gewährleisten.

Der andere missliche Umstand: Wir reden in der Klimadiskussion von Zehntel Grad Erwärmung der Arktis im Winter. Verglichen mit den Temperaturen, die Fridtjof Nansen vor 125 Jahren gemessen hat, liegen jetzt die Lufttemperaturen über der zentralen Arktis um fast zehn Grad Celsius höher. Das stimmt mit den jahrelangen Beobachtungen zum Beispiel in Spitzbergen (sieben Grad Erhöhung) überein.

Kaum eine Region der Erde hat sich in den vergangenen Jahren so stark erwärmt wie die Arktis. Und was dort geschieht, beschränkt sich nicht auf den Polarkreis. Die Klimaentwicklung auch in Europa hängt entscheidend vom Geschehen in der Wetterküche Arktis ab. Es geht darum, wie Wärme zwischen Ozean, Meereis und Atmosphäre ausgetauscht wird. Viele Geräte erstellen letztlich eine umfassende Energiebilanz. »Wir suchen nicht nach dem rosa Elefanten«, sagt Rex. »Wir möchten die Prozesse verstehen. Das ist, wie wenn man ein Uhrwerk aufbaut. Da musst du nicht nur alle Rädchen und Federchen kennen, sondern auch ein Gesamtbild haben, wie alles zusammenwirkt. Irgendwann weißt du dann, wie die Uhr funktioniert.« Deshalb wird das gesamte Ökosystem zwischen einer Höhe von 35 000 Metern und 4000 Metern Wassertiefe erkundet. Alle relevanten Fachbereiche sind beteiligt. Das Akronym der Mission konnte gar nicht besser gewählt werden: MOSAiC. Ausgeschrieben: Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate (Multidisziplinäres Drift-Observatorium zur Untersuchung des arktischen Klimas).

Überraschender Temperatursprung

Ende Januar bewegt ein anderes Ereignis die Gemüter: Innerhalb weniger Stunden steigt die Temperatur von minus 27 Grad auf minus zehn Grad. Tags darauf sinkt sie auf minus 35 Grad. Ein Sprung von 25 Grad! Unter anderem mit Laserlicht wird gemessen, wie die warme Luft aus dem Süden die Zusammensetzung der Spurengase und der Aerosole verändert. Zum ersten Mal konnte solch ein Einstrom in die winterliche Zentralarktis vor Ort analysiert werden. Auch die Eisspezialisten schaffen sich ein Highlight: Fort Ridge neben einem frisch entstandenen, etwa hundert Meter langen Presseisrücken. Diese kleinen Eisgebirge wurden zumeist als kompakte, leblose Masse betrachtet. Über ein genügend großes Loch konnte ein Roboter mit Kamera und angehängtem Netz die Unterseite erkunden, und siehe da: In den Eislücken leben viele Algen, Plankton, kleine Fische; sogar Polardorsch wurde gesehen - Material für das Team Eco, das die Artenvielfalt bestimmt.

Nach dem ersten Driftabschnitt war die »Polarstern« etwa 200 Kilometer vorangekommen, aber wegen des Zickzackkurses und vielen Schleifen betrug die tatsächlich zurückgelegte Strecke 720 Kilometer. Inzwischen hat sich die dritte Crew mit der Eisscholle vertraut gemacht, die sie nicht bei Tageslicht sehen konnte und mit deren Überraschungen sie zurecht kommen muss. Kein Außenposten der temporären ScienceCity ist ausgefallen. Schon jetzt füllt eine riesige Datenflut die Speicher der beteiligten Institute, die der Auswertung harrt. Indes beeinflusst die Ausbreitung des Coronavirus nun auch den Verlauf der Expedition. Nicht dass sich jemand angesteckt hätte, aber wegen der norwegischen Einreisesperre und Quarantäne-Verpflichtungen müssen die von Spitzbergen aus geplanten Messflüge zur Erforschung der Atmosphäre und des Meereises ausfallen.

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