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Ausgesetzt und verschoben
Wo der Streik als Druckmittel fehlt – über welche Machtressourcen Gewerkschaften in Zeiten von Corona verfügen
Es lief so gut: Zum ersten Mal seit der Wende traten Beschäftigte in der sächsischen Ernährungsindustrie in den Warnstreik. Bei Frosta, Bautz’ner Senf oder Cargill haben sie sich organisiert. Es geht um die Angleichung der Löhne auf Westniveau, konkret um bis zu 700 Euro mehr im Monat und die Aussicht auf eine Rente oberhalb der Grundsicherung. Die Gewerkschaft NGG hoffte, mit dieser Tariffunde »Geschichte zu schreiben« im gewerkschaftsskeptischen Osten. Diese Woche sollte der Tarifkonflikt, der seit Dezember läuft, noch einmal hochgefahren werden. Eine Streikwelle war geplant, Hunderte Teilnehmer bei einer zentralen Kundgebung in Dresden erwartet. Und jetzt dürfen die sich wegen Corona nicht versammeln. Die Gewerkschaft hat dennoch gezögert, hin und her überlegt, ob doch noch etwas geht. Schließlich wurden sämtliche Aktionen gecancelt. Die Streiks sind vorerst ausgesetzt. Die Tarifrunde soll durch andere Aktivitäten am Laufen gehalten werden. Es gibt Unterschriftenaktionen und mit den Beschäftigten soll sich intensiver über moderne Kommunikationskanäle über die Angleichungsperspektive ausgetauscht werden.
So ergeht es derzeit fast allen begonnenen oder geplanten Verhandlungen über Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitsbedingungen. Ob Metallindustrie, Baugewerbe, Sozial- und Erziehungsdienste oder eben Ernährungswirtschaft: In sehr verschiedenen Branchen wurden in diesen Tagen Tarifrunden verschoben oder ausgesetzt. Die Corona-Krise trifft die Machtressourcen der Gewerkschaften empfindlich. Die Frage ist, welche Optionen ihnen unter den aktuellen Bedingungen bleiben.
Zwischen Stillstand und Sonderschicht
Dabei könnte die Lage unterschiedlicher nicht sein: Während in der Autoindustrie die Leute nach Hause geschickt werden, Kitas und Jugendeinrichtungen geschlossen sind, müssen in der Lebensmittelproduktion Sonderschichten geschrubbt werden, um die immense Nachfrage nach Nudeln oder Tiefkühlgemüse zu befriedigen.
Wo der Laden ohnehin dicht ist, geht das wichtigste Druckmittel - Streik – flöten. Die IG Metall sah in dieser Tarifrunde ihre Felle jeden Tag mehr davonschwimmen und hat in NRW daher den Sack zugemacht. In den verabschiedeten Tarifverträgen findet sich nun noch weniger, als das ohnehin wenige, das in dieser Runde gefordert wurde, wenngleich es bei der Übernahme des Pilotabschlusses aus NRW in starken Bezirken wie Baden-Württemberg etwa beim Entgelt in der Kurzarbeit noch Abweichungen nach oben gab. Unter linken Metallern gehen die Meinungen über den Abschluss auseinander: Ein Teil sieht darin einen sozialpartnerschaftlichen Irrweg der Gewerkschaftsspitzen, die statt auf Konflikt auf Kuschelkurs mit der Kapitalseite gingen. Andere halten trocken fest: Der Abschluss drücke die derzeitigen Kräfteverhältnisse aus, aber man müsse das dann auch nicht schönreden.
Verschoben sind aber auch Arbeitskämpfe in Bereichen mit dem neuen Gütezeichen »systemrelevant«, in denen es zugleich besonders viel Grund für Streiks gäbe. Öffentliche Aufmerksamkeit wie Dankbarkeit sind jedenfalls so groß wie nie – was ein wichtiges Pfund sein könnte. Doch so wichtig die Produktion von Lebensmitteln ist und so sehr ein Streik deshalb derzeit weh tun würde: »Wir haben mit unserer Tarifkommission entschieden, diese Situation nicht zu nutzen«, erklärt NGG-Sektretär Olaf Klenke. Denn es dürfte kaum Verständnis für einen Ausstand in der jetzigen Situation geben. Und will man Produktionsausfälle wirklich verantworten? Die Beschäftigten im Osten stehen also weiterhin für 30 Prozent weniger Lohn als die Kollegen im Westen an den Maschinen. Die Gewerkschaft hofft, daran später anknüpfen und die Dynamik vom Anfang der Tarifrunde wiederbeleben zu können.
Aber könnten Gewerkschaften nicht wenigstens im öffentlichen Dienst laut Hier rufen, wo doch der Staat gerade Milliarden für Unternehmen locker macht? Verdi erklärt die Verschiebung der »Erzieher-Tarifrunde« mit organisatorischen Problemen, mitgliederstarke Verhandlungskommissionen unter Corona-Bedingungen zusammenzubringen. An einen Tisch setzen können sie sich nicht und digitale Verfahren, die demokratische Beteiligung und Meinungsbildung absichern, seien nicht eingeübt, heißt es. Anders als bei der Telekom, wo die Tarifverhandlungen denn auch trotz Corona weiterliefen und zu einer schnellen Einigung führten.
Gewerkschafter als Krisenmanager
Für Arbeitnehmer wie Gewerkschaften steht die unmittelbare Krisenbewältigung im Vordergrund. Gewerkschaften sind gefordert wie nie, Arbeitsplätze und Entgelte zu sichern und Angriffe von Arbeitgebern abzuwehren, die versuchen, aus der Krise Kapital zu schlagen. Unter Gewerkschaftern geht die Angst um, dass jetzt Standards und Mitbestimmungsrechte ausgesetzt werden, die man später nicht mehr einfangen kann. Wo es keine Betriebsräte gibt, die zum Teil selbst in der gebeutelten Hotelbranche bei Kurzarbeit die Aufstockung der Löhne auf 80 oder sogar 100 Prozent durchsetzen konnten, sind massive Verwerfungen zu befürchten. »Wo es keine Mitbestimmung gibt, fahren die Unternehmen Schlitten mit den Beschäftigten«, formuliert es ein Gewerkschaftssekretär der IG Metall in Ostdeutschland. Somit wird in diesen Tagen auch die Notwendigkeit von Gewerkschaften deutlich - Chance für die Nach-Corona-Zeit, wenn sich womöglich doch ein paar Arbeitnehmer erinnern und bei einer Gewerkschaft anklopfen.
In verschiedenen linken Gewerkschaftszusammenhängen wird derzeit aber auch darüber nachgedacht, wie man jetzt schon die Auseinandersetzung über die Gesellschaft nach der Krise anstößt. Wie man kurzfristig schützende Schirme aufspannt und zugleich das Gerüst für ein neues Dach zu bauen beginnt. Anknüpfungspunkte sehen sie etwa darin, wie die Rolle des Staates neu definiert werden kann, wenn Marktkräfte offenkundig versagen, die Krise in den Griff zu bekommen. Vielen Menschen wird gerade die Bedeutung einer funktionierenden öffentlichen Infrastruktur erst richtig bewusst. »Man muss jetzt schon über grundsätzliche Fragen reden«, sagt der Wiesbadener Gewerkschaftssekretär Axel Gerntke, der in seiner IG-Metall-Vernetzung konkrete Ansätze diskutiert. Über die schwarze Null etwa, die in Stein gemeißelt schien. Nun würden Programme im dreistelligen Milliardenbereich aufgelegt, um Unternehmen, die in der Vergangenheit zum Teil hohe Renditen eingefahren haben, zu stützen. »Das zeigt, was möglich ist, wenn es politisch gewollt ist.«
Vor zehn Jahren in der Finanzkrise setzten Linke große Hoffnungen darauf, dass nun die richtigen Lehren gezogen würden. Am Ende blieb fast alles beim Alten. Deshalb ist unsicher, wie nachhaltig die jetzige Krisenerfahrung ist, weshalb linke Gewerkschafter sich einen offensiveren Kurs ihrer Organisationen wünschen. Die gemeinsame Initiative der DGB-Gewerkschaften für Aufstockung beziehungsweise Erhöhung des Kurzarbeitergeldes sehen sie als ersten Schritt in diese Richtung.
Manchen ist das noch zu defensiv. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften hat 18 Punkte aufgestellt, für die Gewerkschaften sich einsetzen sollten. Sie fordern beispielsweise statt Kurzarbeitergeld die Freistellung bei voller Lohnfortzahlung, Sonderzuschläge für besonders beanspruchte Berufsgruppen wie auch eine Millionärsabgabe zur Finanzierung eines Notprogramms.
Einige gewerkschaftliche Initiativen für eine Neuausrichtung des Gesundheitssystem sind bereits angelaufen. Die Berliner Charité-Krankenschwester Ulla Hedemann hat auf der Plattform »We Act« eine Petition gestartet. »Aus dieser Pandemie-Krise müssen grundlegende Konsequenzen gezogen werden, Schluss mit «Der Markt regelt das schon», ein für alle Mal!«, begründet sie ihren Aufruf für ein nicht-profitorientiertes Gesundheitssystem. Innerhalb von zwei Tagen hatten 100.000 Menschen unterzeichnet.
Gewerkschaftlich aktive Beschäftigte bei Vivantes und Charité haben zudem einen Offenen Brief an den Berliner Senat und ihre Klinikleitungen gerichtet, der konkrete Sofortmaßnahmen und grundsätzliche Forderungen verbindet: von ausreichend Schutzkleidung, kurzfristigen Neueinstellungen, Belastungszulage und Multivitaminsaft bis hin zu fundamentalen Änderungen im Gesundheitssystem. Dies solle »zeitnah« von Beschäftigten, der Gesundheitssenatorin und weiteren
politischen Entscheidern diskutiert werden - natürlich per Videokonferenz.
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