Für jede ein Foto

Klaus Baltruschat war linker Buchhändler und wurde von einem Nazi angeschossen. Generationen von Mädchen kennen diesen Teil seines Lebens nicht. Für sie ist er Klaus, ihr Handballtrainer.

Nächste Übung: Antäuschen. Ball fangen, anlaufen, antäuschen rechts, zwei Schritte links, Sprung, Wurf. Elf Mädchen warten zappelig in einer Schlange, bis sie dran sind. Kopf, Arme, Beine, Mund ununterbrochen in Bewegung. Neun, zehn Jahre sind sie alt. Ihr Trainer könnte ihr Urgroßvater sein. Im grünweißen Trainingsanzug des Berliner Vereins SV Friedrichshagen steht er in der Halle und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Generationen von Mädchen hat er diese Technik schon beigebracht. Die eine Hälfte der Bälle landet bei der Torwartin auf dem Bauch oder rollt quer durch die Halle, ein Mädchen hechtet gebeugt hinterher. Jeder zweite Ball landet im Tor - immer in der rechten oberen Ecke. Wie oft hat er das schon gesehen, wie oft dieselbe rhetorische Frage gestellt: »Kann mir jemand sagen, wie viele Ecken ein Tor hat?« Die Mädchen kichern. Botschaft angekommen. Wird es Klaus doch einmal zu viel, schickt er einen kurzen Pfiff oder ein knappes »Hey« in ihre Richtung. Oft passiert das nicht an diesem Mittwoch im Winter, die Mädchen haben Lust auf Bewegung und machen, was der Trainer sagt. Der ist 85 Jahre alt und hat nur einen Arm. Aber das fällt gar nicht auf.

Nur wenige Kinder wissen, was mit dem Arm passiert ist. Wer doch einmal fragt, dem erzählt er von einem Überfall und einem Neonazi, sie sollten ihre Eltern fragen, was das ist, oder seinen vollen Namen googeln: Klaus Baltruschat. Für Kinderohren klingt seine Geschichte ziemlich abenteuerlich. »Ich trage sie nicht vor mir her«, sagt Baltruschat. Aber sie ist immer bei ihm.

1997 stand seine Geschichte in allen Zeitungen. Klaus Baltruschat, der Buchhändler aus Marzahn. Dem der Neonazi Kay Diesner aus Hass auf alle Linken einen Unterarm und den kleinen Finger der rechten Hand wegschoss. Am 19. Februar kurz nach neun Uhr marschiert Diesner mit einer Pumpgun in die Buchhandlung - in einem Haus, das als Treffpunkt der PDS bekannt ist. Dort feuert er auf den ersten, dem er begegnet. Auf seiner Flucht erschießt Diesner dann den jungen Polizisten Stefan Grage und verletzt einen weiteren schwer.

Solidaritätsbriefe auch aus Kuba

»Das Jahr 1997.« An seinem Wohnzimmertisch in Köpenick hängt Baltruschat für einen Moment seinen Erinnerungen nach. »Das versteht man erst heute«, sagt er dann. »Aber es war das erste politische Attentat in diesem Jahr, dem dann im Herbst der NSU folgte.« Vieles ist über Diesners Tat und den Strafprozess geschrieben worden, man kann es in Buchform kaufen und im Internet nachlesen. Mit der politischen und juristischen Aufarbeitung ist Baltruschat nicht zufrieden, aber die große Anteilnahme, die er und seine Frau damals erfuhren - »unfassbar« findet er das bis heute. Selbst aus Paris und London kamen Solidaritätsbriefe. Enge Freundschaften entstanden damals. Besonders stolz ist er, dass sein Aufruf vom Krankenbett, lieber für Cuba Sí zu spenden, statt Blumen zu schenken, sogar in Lateinamerika wahrgenommen wurde. Die kubanische Regierung dankte ihrem langjährigen Unterstützer mit einem Genesungsurlaub und dem »Orden der Solidarität«. »Das Trauma wird man nicht los«, sagt Baltruschat, und doch sind es diese Erfahrungen, die ihn tragen. Der Fall Diesner aber verschwand wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein.

Für Baltruschat veränderte der 19. Februar alles - und auch wieder nicht. Irgendwann ging er wieder zur Arbeit in den Buchladen, nach zwei Monaten stand er wieder in der Sporthalle. Richtig Fangen kann er den Handballschülerinnen seither nicht mehr demonstrieren. Das lässt er nun von älteren Spielerinnen vormachen, die das schon können. Seine größte Sorge nach dem Überfall: Kinder könnten glauben, dass sowas beim Handball passieren kann.

Seit 50 Jahren ist Baltruschat Trainer. An diesem Mittwoch schaut der Vater einer Spielerin beim Training vorbei. Er muss erstmal ins Tor. Der Verein sucht Nachwuchstrainer, und Baltruschat hat ihn beschwatzt, es mal zu probieren. So ist auch er selbst dazu gekommen. 1970, da war er 35, und seine Tochter Petra spielte Handball. Als ihr Trainer zur Armee musste, wurde Klaus, der selbst als Jugendlicher mit dem Sport angefangen hatte, gefragt, ob er die Mannschaft übernehmen würde - vertretungsweise. Aus drei Jahren wurden Jahrzehnte. Nicht nur, aber auch aus Verantwortungsgefühl. Noch heute ist Missbilligung in seiner Stimme, wenn er erzählt, dass sich der alte Trainer seiner Tochter nie wieder hat blicken lassen.

Trainer seit 50 Jahren

Nicht eine Trainingsstunde sei in all den Jahren ausgefallen, sagt Baltruschat mit stillem Stolz. Nichtmal nach dem Attentat. Da übernahmen seine Söhne und einige Eltern das Training. 2020 ist das erste Jahr, in dem doch Stunden ausfallen: Wegen einem Virus. Sämtliche Sporteinrichtungen sind in der Hauptstadt bis auf Weiteres geschlossen. Auch die schöne neue Halle der Bölsche-Schule in Friedrichshagen. Aber an diesem Mittwoch ist Corona gefühlt noch so fern wie das Attentat vor mehr als 20 Jahren. Viel spannender sind die Bilder, die Klaus jeden Mittwoch mitbringt. Gerade sind fünf Minuten Pause. Die Mädchen holen ihre Trinkflaschen aus der Umkleide und finden sich im Halbkreis um ihren Trainer wieder ein. Der hält mehrere großformatige Fotos in der Hand, die er bei ihren letzten Spielen am Wochenende aufgenommen hat. Wer will eines? Zehn Arme versuchen sich in der Luft gegenseitig zu überragen. Die Mädchen lieben diese Fotos und löchern Klaus schon in der Tür: Hast du wieder welche? Baltruschat hat irgendwann damit angefangen, weil im Fernsehen oder der Zeitung nur selten etwas über Handball gebracht wurde. »Da zählt ja nur Fußball.« So können sich die Mädchen wenigstens selbst sehen.

Politik nur außerhalb der Halle

»Politik spielt keine Rolle in der Halle«, sagt Baltruschat. Die meiste andere Zeit seines Lebens dafür umso mehr. Er interessiert sich nicht für ein Thema, sondern für sämtliche Themen der Politik: Er fragt, was schief gelaufen ist, wenn die Berliner Wohnungsbaugenossenschaften beim Mietendeckel nicht mitziehen, wie die Bundesregierung den Anspruch auf einen Kitaplatz beschließen kann, bevor die Kapazitäten da sind, er differenziert, was die AfD-Politiker Meuthen und Höcke voneinander unterscheidet oder verfolgt die Gründung der Bewegungslinken, einer neuen Strömung seiner Partei, Die Linke.

Dem bundesdeutschen System kann er nichts abgewinnen - »Heuchelei ist Basis dieses Staates«. Die DDR war das einzige Land, in dem es für ihn ein »Wir« gab, bei allen Fehlern, die er einräumt - die moralische Überlegenheitspose der antifaschistischen Eliten, die geschönten Planerfüllungsmeldungen oder die Verfolgung von jungen Friedensaktivisten. »Wir« - die DDR bleibt für ihn die deutsche Alternative, die sie auch für seine Eltern war. 1950 siedelte die Familie von Spandau nach Ostberlin über. Auch frühere Handballgenerationen wussten das nicht, genauso wenig wie, dass er als Sohn eines Tischlers in einer Aufbauklasse für Arbeiterkinder Abitur machte und seine spätere Ehefrau Käthe in der Westberliner FDJ kennenlernte. 1957, mit 23 Jahren, kam sie nach in den Osten. »Ohne Käthes Geduld und Verständnis«, diese Bemerkung ist ihm wichtig, würde er heute nicht so im Leben stehen. Baltruschat erzählt anschaulich, emotional. Wenn er sich konzentriert, kneift er die hellblauen Augen zusammen, um sein Gegenüber danach nur umso fester in den Blick zu nehmen. Seine Arme, auch der halbe, gestikulieren. Auf dem Tisch braucht er Platz, um mit den Fingern zu pochen und Sätze zu sortieren. Was dabei stört, ob Tasse oder Notizbuch, wird beiseite geschoben.

Beim Training lässt Baltruschat den politischen Klaus nicht vor der Hallentür stehen. Er fließt ein in sein Trainingsprogramm, den Umgang mit den Spielerinnen, den Eltern, dem Verein. Im Vorraum der Sporthalle hat er eine Losung in die Vitrine gehängt: »Die Spielerin im falschen Trikot ist unsere Freundin.« Es ist die Antwort auf einen Satz, den eine Nationalspielerin der BRD einmal in einem Interview fallen ließ: »Die Spielerin im falschen Trikot ist unsere Feindin.« Bei dem Wort ist er zusammengezuckt. »Feind ist so martialisch.« Er will den Kindern etwas anderes vermitteln, »Fairness, auch zum Gegner«. Deshalb ärgern ihn die Vorgaben des Handballverbands sehr - konsequente Manndeckung bis zum 12. Lebensjahr. Die Regel bedeutet, dass man der angreifenden Spielerin nicht von der Seite weichen darf. Das stresst kolossal und macht aggressiv. »Wenn einer Neun- oder Zehnjährigen dauernd jemand am Hemd zuppelt, dann haut die auch mal zurück.« Baltruschat hat dafür sogar Verständnis. Aber den Sinn dieser Spielregel versteht er nicht. »Das ist Erziehung zur Gewalt, Erziehung in der Ellenbogengesellschaft.« Bei ihm sollen sich die Mädchen zwar anstrengen, aber sie werden nicht auf Leistung getrimmt. Er will den Mannschaftsgeist fördern, nicht einzelne Stars. »Wir führen keine Torschützenlisten. Haben wir 17 Tore gemacht, dann als Mannschaft.«

Beim abschließenden Trainingsspiel sind alle Mädchen konzentriert. Vor dem Anpfiff stellen sie sich im Kreis auf, haken sich unter, stampfen, brüllen. So viel Martialität darf dann auch bei Klaus, dem Kommunisten, sein.

Die Autorin dieses Textes hat vor 30 Jahren bei Klaus Baltruschat mit dem Handballspielen angefangen. Trainiert hat sie seit Langem nicht mehr. Aber die Liebe zu diesem Sport ist geblieben.

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