Die Leserschaft ist Spiegel der Zeitung
Gastbeitrag von Gaby Sohl, Leserbriefredakteurin der »taz«
»Liebe Frau Sohl, herzlichen Dank für Ihre Antwort! Ich habe mal von einer anderen Zeitung gehört, dass es fast eine Art Strafe ist, in der Leserbriefredaktion die Antworten schreiben zu müssen …« Alles, was der »taz« immer wieder nachgesagt wird, trifft auch auf die meisten LeserbriefschreiberInnen zu: Sie lieben die Ironie, Polemik, den politischen »Weckruf«, linkes Engagement, sie sind frech und originell, manchmal penetrant oder pedantisch, sie machen sich große Sorgen um den Zustand der Welt. Sie sind aber auch voreingenommen, sehr emotional, ausufernd erklärend, sporadisch arrogant, hingerissen von ihrer eigenen Expertise und manchmal herzzerreißend ehrlich.
Den Auftakt macht Gaby Sohl. Sie ist Leserbriefredakteurin der taz und freie Autorin, geboren 1960 in Bochum, Studium der Philosophie und Sozialarbeit. Arbeit in der Psychiatrie und Antipsychiatrie in den USA und in London, ehemalige Krisenberaterin für Suizidgefährdete und Supervisorin für psychiatrische Modellprojekte. Für die taz hat sie unter anderen Gianna Nannini, Gitte, Lea Rosh, Dan Bar-On und Laurie Anderson interviewt.
Es gibt Tage, an denen ich die Beantwortung einiger Briefe tatsächlich als ein ausgefuchstes Strafkommando im Höllenzeichen der »Leser-Blatt-Bindung« empfinde. Wie so oft gilt die Drittel-Regel: Ein Drittel der Leserbriefe fällt in die Rubrik, »Was ich immer schon mal sagen wollte«, ein Drittel ist sehr differenziert und interessant und das letzte Drittel ist - die Strafarbeit. Die Strafe ereilt die Redaktion als aufgeblasene Besserwisserei, die jeden Druckfehler für eine persönliche Beleidigung hält, als grundsätzliche Beschimpfung der politischen Stoßrichtung, als Unfähigkeitsunterstellung an alle Medien, im schlimmsten Falle als Hasstirade, die überhaupt nichts mehr mit den Texten der Zeitung zu tun hat. Das interessante Drittel der Briefe macht diese Fronarbeit wett: Hier melden sich engagierte, fachkundige und weltoffene LeserInnen, die einen ernsthaften Diskurs wollen und Aspekte beleuchten, die in der »taz« (so noch) nicht betrachtet wurden.
LeserbriefschreiberInnen sind für mich in erster Linie - AutorInnen. Meine Aufgabe als Redakteurin ist es, ihren Text in der klarsten und schönstmöglichen Form zu präsentieren. Das bedeutet fast immer: kürzen. Aber so, dass der Brief gewinnt und die Kernaussagen zur Geltung kommen. Mir macht diese Gestaltungsarbeit Spaß, auch weil ich weiß, dass es für viele LeserInnen immer noch etwas Besonderes ist, ihre Meinung gedruckt zu lesen. Ihnen geht es um die Sache. Andere betreiben eher eine Art Nörgelshiatsu oder sehen die Briefredaktion als Abwurfstelle für ihre höchstpersönliche Weltwut. Online werfen einige mit extrem unfairen Beschimpfungen um sich - willkommen im Rumpelstilzchenreich. In der Printwelt herrscht ein seriöserer Ton, es geht gesitteter zu. Meistens!
Interessant ist die klare Geschlechtszuordnung: Die wüstesten Schimpfkanonen feuern fast ausschließlich Männer ab. Insgesamt ist das Verfassen von Leserbriefen eine vorrangig männliche Betätigung. Es sind zu 70 bis 80 Prozent Männer, die uns schreiben. Das mag daran liegen, dass die »taz« immer noch als linke, weiße Männerzeitung wahrgenommen wird. Doch auch bei anderen Zeitungen lässt sich ein Übergewicht der Männerstimmen feststellen. Die Leserschaft ist ein Spiegel der Zeitung, die Leserbriefe sind es nur bedingt - es ist ja nur ein kleiner Teil unserer LeserInnen, der »zurückschreibt«.
Wir erhalten pro Tag etwa 30 Leserbriefe, am Wochenende rund 120, also etwa 270 Briefe in der Woche. Die Online-Kommentare sind hier nicht mitgezählt. LeserInnen sind vieles zugleich: Kunden, Reflektor, Korrektiv, Impulsgeber, Kritiker, Konsumenten, Widerspruchsgeister, Lebensweltexperten, Fans, Hassliebhaber, Empörungskünstler, Ideengeber.
Wir erhalten leidenschaftliche Plädoyers, Gedichte, freundliche Fehlerkorrekturen und Kommentare jeglicher Länge zur Weltpolitik. Alles ist möglich in der »taz« - vom Kotzbröckchen bis zum detaillierten Expertenstatement. Die Bandbreite der Briefe spiegelt in jedem Falle einen Teil des breiten Spektrums unserer LeserInnen.
Anrührend ist immer wieder, dass so viele LeserInnen ihre »taz« wirklich lieben. Die Zeitung gehört zu ihrem Leben einfach dazu, sie sind mit ihr älter geworden, sie haben ihr die Treue gehalten - und sind zutiefst traurig bei der Aussicht, in zwei Jahren an den Wochentagen wohl keine Printausgabe mehr kaufen zu können. Diese Dialoge haben etwas Familiäres. Aber … wehe, die Liebe wird enttäuscht! Ein »falscher«, politisch nicht akzeptierter Artikel - dann geht die Post ab! Der Identifikationsgrad mancher LeserInnen lässt auch staunen. Trotz aller Veränderungen, obwohl unser Blatt schon lange nicht mehr links radikal, sondern eher links liberal geworden ist - der Schlachtruf, »Nicht in meiner taz!« erreicht uns erstaunlich häufig.
Eine Tageszeitung ist per se ein schnelles Medium. Der Online-Journalismus hat nun alle Zeitungen zur Turboschnelligkeit verdonnert. Das neue Tempo wird den Journalismus langfristig verändern, die Digitalisierung erlaubt Vernetzungen bisher ungeahnten Ausmaßes, aber auch einen Nachrichtendruck, der vielen LeserInnen inzwischen zu hoch, zu fordernd ist - oder zu oberflächlich. Die Kunst wird langfristig darin bestehen, auch lange Hintergrundstücke, ein Markenzeichen unserer Berichterstattung, online so zu präsentieren, dass die Originalität und der besondere Witz der Tageszeitung erhalten bleiben und neue Ausdrucksformen im digitalen Raum finden - auch ästhetisch.
»Liebe Frau Sohl, Dank für die zugewandte und hochprofessionelle Leserbriefredaktion. Die hatte ich nie konkret zur Kenntnis genommen, als eine eher technische Einrichtung missverstanden und nicht im Ansatz vermutet, welcher Abgrund an Bildung, Klugheit und Format (und welche Arbeit) bei der ›taz‹ dahintersteht. Puh - was für ein Schreck! Wenn es nur immer solche Schrecken wären und nicht wie heute aus Erfurt …«
Die Freude mancher LeserInnen über eine klare und detaillierte Antwort statt eines Marketinggesäusels, das berechtigte Kritik mit einem Schaumstoffschwert zu entkräften sucht, diese Freude ist ansteckend. Wir haben eine sehr intelligente Leserschaft, viele unkonventionell Denkende, die immer wieder zu uns zurückfinden, obwohl sie Etliches an unserer Berichterstattung stört.
Mich stört auch einiges - es gibt wohl niemanden, sowohl in der Redaktion als auch im Verlag, der oder die sich nicht immer wieder aufregt und alles ganz anders machen möchte. Dafür wurde die »taz« auch erfunden.
Ich bin seit 20 Jahren Teilzeit-Tazlerin an drei Tagen in der Woche, lange Jahre als rechte Hand der Chefredaktion und als freie Autorin und nun seit zwei Jahren als Leserbriefredakteurin und freie Autorin. Seitdem gibt es nicht nur am Samstag, sondern auch am Mittwoch eine ganze Seite Leserbriefe. Diese Seite hatte ich mir gewünscht. Chefredakteur Georg Löwisch fand die Idee gut und platzierte die Briefe weit vorn, auf der Seite vier. Vorher gab es eine Spalte pro Tag - Bleiwüste am Rand auf täglich wechselnde Seiten ohne besonderes Layout. Diese Spalten wurden vorzugsweise von absoluten Leserbrieffans gelesen. Die neue Briefseite mit eigener Gestaltung wird von wesentlich mehr LeserInnen und KollegInnen wahrgenommen, sie fällt auf: eine ganze Seite Leserfeedback zu einem aktuellen (Streit-)Thema und ein Briefpotpourri in der Randspalte unter der Rubrik »meinungsstark«. Am Ende steht (toi, toi, toi!) eine Seite, die das Thema um neue Facetten bereichert. Mir ging es darum, unseren LeserInnen mehr Sichtbarkeit und ihren Kommentaren mehr Gehör zu verschaffen. Ich hoffe, das ist gelungen.
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