Trennung auf Probe

SONNTAGSSCHUSS: Christoph Ruf über Gott als Griesgram und DSL-Menschen, die in fremdbestimmten Zeiten krampfhaft Normales tun

Es gibt Menschen, die mussten die Meldung zweimal lesen, bis sie sie in aller Absurdität erfasst hatten. Olympia 2020 wird wegen Corona um ein Jahr verschoben und soll nun im Sommer 2021 stattfinden. Die Spiele heißen dann allerdings nach wie vor »Tokyo 2020«. So wie Menschen, die 2002 geboren sind, selbstverständlich Millenniumskinder sind. Sie sind halt nur zwei Jahre nach dem Jahrtausendwechsel geboren.

Der krampfhafte Versuch, so etwas wie Normalität vorzugaukeln, indem an gewohnten Abläufen möglichst lange festgehalten wird, begegnet einem auch im Sport seit Wochen. Während Hunderttausende Menschen bereits Atemmasken und dreilagiges Klopapier horteten, diskutierte die Fußball-Bundesliga noch angeregt darüber, ob der kommende Spieltag mit oder ohne Zuschauer stattzufinden habe. Dann wurden die ersten Spieler positiv getestet.

In dem großartigen Film »Das brandneue Testament« von 2015 wird die Frage verhandelt, was die Menschen tun würden, wenn sie ihr Sterbedatum kennen würden. Natürlich entfallen plötzlich bei denen, die nicht mehr viel Zeit haben, alle Ängstlichkeiten, der Angebeteten ihre Liebe zu gestehen, Kriege werden auch nicht mehr vorbereitet, letzte klärende Gespräche mit wichtigen Menschen geführt. Gott hingegen, der seine Macht aus der vagen Angst vor dem Tod gezogen hatte, bevor seine Tochter die Daten an die Menschen verpetzte, irrt als griesgrämiger Schrat im Bademantel durch Brüssel und schließlich durch Usbekistan. Er hat keine Macht mehr über Menschen, für die der Tod keine abstrakte Bedrohung mehr ist, sondern eine nahe und unausweichliche Realität.

Viele Menschen, die wüssten, dass am 27. September um 15.32 Uhr ein Komet die Erde vernichtet, würden wohl dennoch am 26. September noch mal ihre Meerschweinchen füttern, die Blumen gießen, das Auto waschen und in ihre Stammkneipe gehen. Nicht, weil sie dort noch ein letztes klärendes Gespräch führen oder noch ein letztes Mal ihr Lieblingsbier trinken wollten. Sondern weil sie es schon so oft so gemacht haben.

Selbst im Zweiten Weltkrieg gab es gut besuchte Kinovorführungen, bis die Bomben herabprasselten. Es soll Paare geben, die nach 15 Jahren auseinander ziehen und ihrem Freundeskreis gegenüber eine »Trennung auf Probe« verkünden. Tapfer versuchen sie dabei, die mitleidigen Blicke all derer zu übersehen, die natürlich genau wissen, dass es in der Menschheitsgeschichte noch selten Trennungen gab, die nicht definitiv waren.

Ob es nun Teil der menschlichen Natur oder nur eine zwangsläufige Folge der Aufklärung ist – jedenfalls empfinden wir eine Zäsur nicht mehr als Abbruch, sondern als zeitweilige Unterbrechung des Gewohnten. Ein definitives Ende, scheint es, ist für uns schwer zu begreifen. Wir DSL-Menschen sind Definitives erst recht nicht mehr gewohnt. Was bedeutet schon eine Ladenschlusszeit, wenn Amazon auch nach 22 Uhr kein Vorhängeschloss vor der Tür hat, was die Schließung des örtlichen Kinos, wenn man um drei Uhr morgens noch seinen Lieblingsfilm streamen kann? Wer sich jahrelang daran gewöhnt hat, dass alles und jeder zu jeder Tages- und Nachtzeit erreich- und verfügbar ist, braucht entsprechend lange, um zu begreifen, was alles nicht mehr geht, wenn das Leben plötzlich so umfassend fremdbestimmt wird wie in Zeiten einer Pandemie.

Das ist schon für normale Menschen kaum zu begreifen. Für den Wirtschaftsflügel der CDU und den politischen Flügel der Wirtschaft, die FDP, ist das alles offenbar ein Ding der Unmöglichkeit. Es gibt sicher viele Menschen, die während der »Tagesschau« kopfschüttelnd vor dem Fernseher sitzen, wenn um 20.02 Uhr Bilder von aufgestapelten Särgen und abgeriegelten Altersheimen gesendet werden – und um 20.08 Uhr die entsprechenden Politiker eine »Exitstrategie« von der Bundesregierung fordern. Sie selbst würden vehement verneinen, dass da ein Denkfehler vorliegt. Spätestens Mitte der Woche dürfte dann auch der erste FDP-Politiker fordern, dass der Bundestag darüber abstimmt, ob es das Virus gibt oder nicht.

Unter den vielen Menschen, die im »Brandneuen Testament« von Gottes gehacktem Computer ihre Todeszeit aufs Handy geschickt bekommen, gibt es eine Frau, die in den fünf Minuten, die ihr noch verbleiben, alle Gegenstände aus ihrem Zimmer entfernt, die ihr mit viel Fantasie gefährlich werden könnten. Als die fünf Minuten abgelaufen sind, wird sie von ihrem eigenen Schrank erschlagen.

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