Corona-Krise: Nicht den Kompass verlieren

Eine Kritik an der Einschränkung der Bürgerrechte sollte an zweiter Stelle stehen, meint Christian Leye

  • Christian Leye
  • Lesedauer: 7 Min.

Gerade in linken Kreisen werden in diesen Tagen die aktuellen Ausgangsbeschränkungen leidenschaftlich diskutiert. Von Polizei- und Überwachungsstaat ist teilweise die Rede, vom Untergang der Demokratie und dem Ende der bürgerlichen Freiheiten. Die linke Debatte läuft zu diesem Zeitpunkt in die falsche Richtung. Wir müssen uns schnell orientieren, um sprechfähig zu sein.

Wichtig ist nicht aus den Augen zu verlieren, worum es geht: wir müssen verhindern, dass zu schnell zu viele Menschen gleichzeitig krank werden. Das Gesundheitssystem, das jahrelang kaputt gespart wurde, könnte dem Druck nicht standhalten und es droht die Triage. Im Krankenhaus würden wie in italienischen oder französischen Krisenregionen diejenigen ausgesucht, die die wenigsten Überlebenschancen haben, und die dann nicht an die knappen Beatmungsgeräte dürfen. Konkret bedeutet das ein Todesurteil für die Betroffenen.

Gleichzeitig wird der Pandemie wohl eine ökonomische Krise folgen. Einerseits bricht massiv Nachfrage weg, und andererseits steht ein Teil der Produktion still. Das betrifft bei weitem nicht nur Kleinstbetriebe oder die Gastronomie, sondern auch Schlüsselindustrien wie die Automobilbranche, die teilweise europaweit die Produktion eingestellt hat.

Der Corona-Virus und die daraus folgenden Ausgangsbeschränkungen könnten möglicherweise die härteste ökonomische Krise hervorrufen, die es seit Generationen gegeben hat. Es geht um Geld, und zwar um richtig viel Geld. Und dann wird es im Kapitalismus eben ernst. Je länger die Ausgangsbeschränkungen dauern, je länger die Menschen zuhause bleiben und nicht bei der Lohnarbeit sind, desto höher sind die Kosten für das Kapital. Daraus entsteht ein Interessengegensatz.

Es geht um viele Milliarden Euro an drohenden Verlusten, weil das Leben von Allen und insbesondere Alten, Schwachen und Armen geschützt werden muss. Wenn auf der einen Seite die Interessen des Kapitals stehen und auf der anderen Seite das Leben von Tausenden, dann muss eine sozialistische Linke diesen Interessenskonflikt klar auf dem Schirm haben, um politisch intervenieren zu können. So eine Entscheidung droht im realexistierenden Kapitalismus nicht unbedingt nach humanen Kriterien getroffen zu werden. Karl Marx schrieb uns ins Poesiealbum: »Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.«

Und andersrum gilt das eben auch: Bei drohendem und massiven Verlust von Profit geht das Kapital über Leichen, wenn es nicht aufgehalten wird. Wenn Linke sich also über konkrete Polizeimaßnahmen in einer tendenziell rassistischen Klassengesellschaft ärgern, dann ist das nicht egal. Aber wir sollten auf dem Schirm haben, was es in einer Klassengesellschaft wie der unseren bedeuten kann, wenn in den Krankenhäusern selektiert werden muss, wer leben darf und wer nicht. Schon unter Bedingungen ohne Pandemie haben ärmere Menschen eine deutlich niedrige Lebenserwartung, unter anderem aufgrund von Arbeits-, Wohn- und Konsumbedingungen. Diese Unterschiede etwa in der gesundheitlichen Konstitution drohen sich massiv zuzuspitzen in Zeiten einer ausufernden Pandemie. Wenn das kaputtgesparte Gesundheitssystem zu kollabieren droht, ist der Schutz der Bevölkerung zuerst und vor allem eine Klassenfrage und erst danach eine Frage nach Freiheitsrechten.

Der systemische Imperativ im Kapitalismus fordert nicht primär Beschränkung unserer Kontakte und ihre staatliche Kontrolle ein, sondern zuerst, uns alle schnellstmöglich an die Schippe zu kriegen und wieder Mehrwert zu produzieren. Während wir noch das Ordnungsamt für Kontrollen im Park kritisieren, organisiert sich bereits von rechts der politische Widerstand gegen die Ausgangsbeschränkungen, weil sie die Profite des Kapitals bedrohen.

Die britische Regierung unter Premier Johnson hatte für drei Tage vor, den Geschäftsbetrieb aufrecht zu erhalten und die Wirtschaft zu schützen, nicht einmal Großveranstaltungen wurden abgesagt. Dafür waren sie offenbar bereit, den Tod von zehntausenden Menschen in Kauf zu nehmen. Wörtlich sagte Johnson zu Beginn der britischen Krise: »Ich muss zur britischen Bevölkerung ehrlich sein: Mehr Familien, viel mehr Familien werden geliebte Angehörige vor der Zeit verlieren.« Erst unter dem massiven politischen Druck kippte die britische Regierung wieder um und schränkte das soziale Leben ein.

Der Vize-Gouverneur von Texas, Dan Patrick, forderte bei Fox, dass die Wirtschaft der Coronakrise nicht geopfert werden darf. Auf die Frage des Moderators »Aber es gibt für Sie etwas, das schlimmer ist als der Tod?« war Patricks Antwort ein grundehrliches »Ja«, und er meinte die Profite des Kapitals. Bolsonaro, der faschistische Präsident Brasiliens weigert
sich, mit Ausgangssperren die Wirtschaft zu gefährden, während die Proteste der Bevölkerung, die zu den Opfern zählen würden, von Tag zu Tag wachsen und insbesondere ein Drama bei der indigenen Bevölkerung droht.

Auch in Deutschland hat diese Debatte inzwischen begonnen, auch wenn sie rhetorisch zivilisierter geführt wird. Christian Lindner fordert einen schnellen Exit aus den Ausgangsbeschränkungen und macht klar: »Wir werden jetzt das Feld anführen, wenn es darum geht, die Eingriffe wieder zu reduzieren.« Auch Boris Palmer fordert eine Exit-Strategie und Annegret Kramp-Karrenbauer denkt ebenfalls über Möglichkeiten der Aufweichung nach, wie etwa die Isolierung von Hochrisikogruppen. Obwohl Angela Merkel inzwischen erklärte, dass die Schutzmaßnahmen ersteinmal in Kraft bleiben sollen, ist die Diskussion noch nicht zuende. Amin Laschet, NRW-Ministerpräsident und sonst eher politisch nahe an der Kanzlerin, widersprach öffentlich und forderte ein Nachdenken über das Ende der Ausgangsbeschränkungen. Die Debatte, was politisch wichtiger ist, kommt: der Schutz der Wirtschaft oder der Schutz von Menschenleben.

Sicherlich wird das kaum jemand so deutlich aussprechen, sondern es eher vorsichtig formulieren wie es Marco Buschmann im Spiegel getan hat, Parlamentarische Geschäftsführer der FDP im Bundestag: »Sie (medizinische Szenarien und politische Abwägungen) müssen die Frage beantworten, ab wann es verantwortbar ist und ab wann es sogar geboten ist, die jetzige Ausnahmesituation der sozialen Distanzierung zurückzufahren und schließlich zu beenden.« Die Linke braucht eine klare Haltung dazu, die sich an einer materialistischen Kritik der politischen Ökonomie orientiert, denn es geht um viel.

Für Linke sollte der Schutz der Bevölkerung Vorrang haben, und dies bedeutet vorerst eben auch eine deutliche Reduktion des sozialen Lebens. Dies ist selbstverständlich mit sozialen Kosten verbunden, und das ist nicht kleinzureden. Selbstverständlich müssen Linke gefährliche und sinnlose Überwachungsmaßnahmen politisch widersprechen. Es gilt aber auch: wir dürfen dabei den gesellschaftlichen Kernkonflikt zwischen Kapital und Arbeit und dessen Dynamik nicht aus den Augen verlieren.

Jetzt droht ein frühzeitiger Rückgang der Schutzmaßnahmen, um den Geschäftsbetrieb nicht zu gefährden. Fragen der Persönlichkeits- und Bürgerrechte stehen zu einem späteren Zeitpunkt auf der politischen Tagesordnung und müssen dann hart verhandelt werden.

Stattdessen sollten wir jetzt unsere Hausaufgaben machen. Die ökonomischen und daraus folgenden politischen Folgen der Krise sind Stand heute noch nicht vollständig abzuschätzen und haben sich auch noch nicht entfaltet. Wir werden uns möglicherweise auf eine harte Wirtschaftskrise einstellen müssen, vielleicht viel härter als die Finanzmarktkrise von 2007. Wenn dies eintritt kommt die soziale Frage mit aller Gewalt wieder auf die politische Tagesordnung. Es wird um Verteilungsfragen gehen und darum, wer in der Krise gerettet wird und wem man nicht hilft. Und es wird um die Frage gehen, wer das alles bezahlen muss. Hier ist die politische Linke gefragt, Maßnahmen zum Schutz der Lohnabhängigen sowie von Kleinunternehmen und Soloselbstständigen zu fordern.

Das neoliberale Dogma könnte in dem drohenden Chaos der kaputtgesparten Gesundheitssysteme zerbrechen. Es ist dabei durchaus möglich, dass bald Maßnahmen gesellschaftlich breit diskutiert werden, die tief in die Produktionsverhältnisse eingreifen. Spanien hat bereits heute alle Krankenhäuser verstaatlicht, weil der Markt es eben ganz und gar nicht regelt. Italien hat eine Fluggesellschaft verstaatlicht, und die ökonomische Krise hat noch gar nicht richtig begonnen. Fragen wie die gesellschaftlich gesteuerte Produktion von Medikamenten, Mundschutz und Desinfektionsmittel werden aufkommen. Dann werden klug formulierte Antworten von links gebraucht. Wenn das herrschende Wirtschaftsmodell in Frage gestellt wird, wenn es um Gemeinschaft und den Schutz von uns allen geht, dann weht der Wind von links.

Christian Leye ist Landessprecher der Linken in Nordrhein-Westfalen.

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