Corbyns unsicheres Erbe
Neuanfang bei Labour - nur die Richtung ist noch unklar.
So wenig Aufmerksamkeit hat eine Vorsitzwahl schon lange nicht mehr erregt. Die Coronakrise hat den politischen Normalbetrieb völlig durcheinandergebracht, es erscheint fast als Nebensächlichkeit, dass die britische Labour-Partei am Samstag einen neuen Parteichef bestimmt. Für die britische Linke ist das nach der Niederlage vom Dezember ein Neuanfang - wohin es geht, ist völlig offen.
Jeremy Corbyn, der nach viereinhalb Jahren abtritt, beendet seine Amtszeit gut gelaunt. Die Inkompetenz der Regierung im Umgang mit der Corona-Epidemie, ihre langsame Reaktion und die konfuse Kommunikationsstrategie Boris Johnsons - all das bietet reichlich Angriffsfläche für den scheidenden Chef. »Ich hätte nicht gedacht, dass es gerade mal drei Monate dauern würde, bis klar wird, dass ich absolut recht hatte«, sagte Corbyn letzte Woche. Er habe stets darauf bestanden, dass die Gesellschaft nur zusammenwachsen könne, wenn der Staat investiere. Angesichts des riesigen Konjunkturpakets, das das Parlament zur Bekämpfung der Epidemie verabschiedet hat, fühlt er sich nun bestätigt.
Ungeachtet der bitteren Niederlage vom Dezember hat der linke Vorsitzende viel erreicht. Die Labour-Partei hat hunderttausende Mitglieder hinzugewonnen, dank Corbyn hat eine neue Generation von jungen Menschen ihren Enthusiasmus für Politik entdeckt. Und die politische und gesellschaftliche Debatte in Großbritannien, einst ein Bollwerk des Neoliberalismus, hat sich geändert: Vorschläge, die zuvor in der öffentlichen Diskussion eine untergeordnete Rolle spielten, haben an Akzeptanz gewonnen - etwa die Verstaatlichung von Wasser- oder Stromversorgung oder ein Green New Deal.
Für seine Nachfolgerin oder seinen Nachfolger stellt sich die Frage, inwiefern sie oder er den Linkskurs, den Labour in den vergangenen vier Jahren eingeschlagen hat, beibehalten will. Alle drei - Keir Starmer, Rebecca Long-Bailey und Lisa Nandy - haben zugesichert, dass sie auf Corbyns Erbe aufbauen wollen; beispielsweise herrscht Einigkeit, dass wichtige Sektoren vergesellschaftet werden sollten.
Dahinter könnte jedoch auch wahltaktisches Kalkül stecken: Angesichts der großen Zahl der Parteimitglieder, die in erster Linie wegen dem linken Vorsitzenden zu Labour gestoßen sind, wäre es riskant, eine radikale Abkehr vom »Corbynismus« zu versprechen. Eine Umfrage von dieser Woche bestätigt: Die linken Wahlprogramme, für die Corbyn verantwortlich zeichnet, stoßen bei den Mitgliedern auf überwältigende Zustimmung.
Aber wenn die Wahl erst einmal vorbei ist, könnte sich die Situation anders darstellen. Die Linke ist insbesondere skeptisch gegenüber dem großen Favoriten, Keir Starmer. Der ehemalige Staatsanwalt, der unter Corbyn als Brexit-Schattenminister amtierte, hat während der vergangenen Jahre durch seine Kompetenz und seine Auftritte überzeugt. Er präsentiert sich als »Versöhnungskandidat«, der die Spaltungen innerhalb von Labour überwinden wird. Man müsse sich fragen, ob sich die Partei »zusammennehmen und verändern will«, sagte er - sonst werde sie nicht gewinnen.
Doch seine Kritiker befürchten, dass dies im Prinzip auf Konzessionen an die zentristischen und rechten Gruppierungen in der Fraktion hinauslaufen wird - zulasten der Linken. Diese Strömungen sind auch nach vier Jahren Corbyn noch immer einflussreich und pflegen gute Beziehungen zur Presse. Tritt Starmer in die Fußstapfen seines Vorgängers, wird die überwiegend rechte Presse nicht zögern, ihn in ähnlicher Weise zu verunglimpfen wie Corbyn. Und dass die parteiinternen Gegner der Linken ein radikales Programm unter Starmer akzeptieren, wenn sie es unter Corbyn zurückgewiesen haben, ist unwahrscheinlich.
Am vergangenen Sonntag nährte die Presse solche Befürchtungen: Die »Sunday Times« berichtete, dass Starmer eine »Säuberungsaktion« gegen Corbyn-Anhänger in den Führungsgremien der Partei plane. Die entscheidende Frage ist, wie sich ein solcher Schritt auf die Parteibasis auswirken würde - und ob nach vier Jahren, in denen Labour versuchte, die Graswurzelarbeit in den Vordergrund zu stellen, wieder der normale Westminster-Betrieb - Politics as usual - aufgenommen wird.
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