Der werdende Mensch
Ein politischer Denker auch für unsere Tage - vor 150 Jahren wurde Gustav Landauer geboren
Ich glaube, dass ich etwas unüblich bin und in kein Schubfach hineinpasse, kommt daher, dass ich weder ein Agitator noch ein Dichter bin, sondern eine Synthese von beiden», schrieb Gustav Landauer 1912 über sich selbst. Wer war dieser «Kämpfer für Freiheit und Menschlichkeit»? Der eine viel beachtete Rede bei Kurt Eisners Begräbnis hielt und dessen eigenes Begräbnis von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde? Der Mann, der die Prügelstrafe in den Schulen während der Münchner Räterepublik 1919 als «Volksbeauftragter für Volksaufklärung, Unterricht, Wissenschaft und Künste» abschaffte? Der seinem berühmten «Aufruf zum Sozialismus», den er seiner zweiten Frau Hedwig Lachmann widmete, auch den Bourgeois Thomas Mann begeistern konnte? Rita Steininger erinnert an den gewaltfreien Anarchisten, Rätesozialisten, Übersetzer, Mystiker und Schriftsteller profund: politisch und privat. Offenbart allerdings neben seinen Stärken auch homophobe Züge.
Aufgewachsen in einer säkularen jüdischen Familie, fiel der vor 150 Jahren geborene Gustav Landauer früh durch besondere literarische Fähigkeiten auf. Entgegen dem Willen seines Vaters wird er weder Zahnarzt noch Chemiker, sondern Schriftsteller. Was ihm zeitlebens eine Abhängigkeit von Verwandten, Freunden und Mäzenen einbringt.
Über Landauer legte die Polizei nach seinen ersten öffentlichen Vorträgen 1892 eine Akte an. 1893 trat er in das Herausgeberkollektiv «Sozialist», ein «Organ aller Revolutionäre.» «Seitdem erschienen darin immer häufiger Beiträge zum Anarchismus, er selbst bezeichnete sich inzwischen als »Anarchosozialisten«, schreibt Steininger. Landauer schrieb, wie er lebte: lustvoll, radikal und meist empathisch. Er löste seine erste (geheime) Verlobung, um zu heiraten, ging ein Verhältnis ein, plante eine offene Beziehung und verliebte sich in die Lyrikerin und Übersetzerin Hedwig Lachmann. Vertrat fortan das Konzept der Ehe als Fundament der neuen, föderativen Gemeinschaft.
Er schuf ein enormes Werk an Literatur und vor allem politischer Philosophie, das Libertäre auf der ganzen Welt beeinflusste, bis hin zur Kibbuz-Bewegung. Denn für Landauer war die Revolution untrennbar verbunden mit einer Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen als kontinuierlicher Prozess, nicht oktroyiert oder ein einmaliges Ereignis. Der werdende Mensch sollte sein revolutionäres Potenzial in Gemeinschaftsprojekten ohne Privateigentum entwickeln, in denen Produktionsmittel und Land allen gehören. »Mit dem Zionismus kann sich Landauer allerdings nicht identifizieren«, bemerkt Steininger. »Als Libertärer, der Anarchie als Freiheit von Herrschaft versteht und daher jedes Staatsgebilde ablehnt, stellt er den Sinn einer nationalpolitischen Erneuerung des Judentums infrage.« Für Landauer war die »starke Betonung der eigenen Nationalität, auch wenn sie nicht in Chauvinismus ausartet, … Schwäche«. Folgerichtig lehnte er den Kriegstaumel 1914 ab, dem so viele seiner Genossen zum Opfer fallen sollten. Und ging für seine politischen Überzeugungen gleich mehrfach ins Gefängnis.
Die Biografie ist übersichtlich in einzelne Lebensphasen strukturiert, eignet sich hervorragend als Einstieg, und auch Kenner*innen werden darin unbekannte Seiten entdecken. Sie stellt Wegbegleiter wie Erich Mühsam vor, zeigt aber ebenso Landauers Homophobie, die sich gegen Mühsams 1902 veröffentlichte Streitschrift »Die Homosexualität« und im »Sozialist« offenbarte. Sorgsam ausgewählte Briefauszüge lassen uns tief in sein Leben eintauchen. Etwa wenn es um seinen Gesundheitszustand geht, der durch Gefängnisaufenthalte, Zigarettenkonsum und ein chronisches Darmleiden stark angegriffen wurde: »immerzu Katarrhe und immerzu Abmagerung«. Bilder unterstreichen, wie wichtig für Landauer seine Familie war.
Bei den Wahlen während der Räterepublik in München unterlag die USPD, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Leider erwähnt Steiniger einen gewichtigen Grund nicht: Die Boykottaufrufe der moskautreuen Kommunisten und der Anarchisten. Nach Eisners Ermordung ging Landauer sogar eine Beziehung mit dessen Frau ein und lebte mit ihren und seinen Töchtern für kurze Zeit als Familie unter einem Dach - bis er selbst von Faschisten brutal ermordet wurde.
Zur tieferen Recherche sei die von Siegbert Wolf herausgegebene Landauer-Reihe empfohlen. Er stand Steininger beratend zur Seite, die im Vorwort ihrer Biografie betont, dass sich Landauer »trotz aller Schicksalsschläge … bis zu seinem Lebensende den Atem bewahrt, mit aller Kraft für die Freiheit des Individuums und für ein humanes Miteinander einzutreten. In diesem unbeirrbaren Engagement kann er uns noch heute ein Vorbild sein.«
Rita Steininger: Gustav Landauer - ein Kämpfer für Freiheit und Menschlichkeit. Volk-Verlag, 208 S., br., 18 €. Ausgewählte Schriften von Gustav Landauer. Hg. v. Siegbert Wolf. 15 Bände. Edition AV.
Unser Autor ist Vorsitzender des Verbandes der Schriftstellerinnen und Schriftsteller Mittelfranken.
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