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Die guten Erwerbslosen
Die Regierung hat die Regeln für Hartz IV gelockert. Nun gibt es zwei Klassen von Empfängern: die Schuldigen und die Unschuldigen.
Für den März vermeldete die Bundesagentur für Arbeit - vermeintlich trotz Corona - weniger Arbeitslose als im Februar. Doch die Statistiker betrachten jeweils nur den Zeitraum bis zur Monatsmitte - die Folgen der drastischen Geschäftsschließungen wegen der Pandemie konnten sich in dieser Zeit noch gar nicht niederschlagen.
Manche Forschungsinstitute rechnen mit einem drastischen Anstieg an Arbeitssuchenden, das Ifo-Institut geht beispielsweise von mehr als einer Million mehr Erwerbslosen aus. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung kalkuliert alleine durch eine fünfwöchige Pause des Wirtschaftslebens mit 150 000 zusätzlichen Arbeitslosen.
Etwa 1,65 Millionen Menschen sind bundesweit auf die Unterstützung der Tafeln angewiesen. Derzeit sind jedoch mehr als 400 von 949 Tafeln geschlossen. Der Paritätische Gesamtverband fordert deshalb 100 Euro mehr Grundsicherung. Zudem eine Einmalzahlung von 200 Euro für »coronakrisenbedingte Mehraufwendungen«, etwa Arzneimittel oder erhöhte Energiekosten. Das Sozialgericht Konstanz lehnte eine solche Forderung ab. Die gestiegenen Kosten seien aus dem Regelsatz zu decken, da bedingt durch die Pandemie andere Kosten wegfielen, etwa für Kultur oder Verkehr. Um das erhöhte Aufkommen von Anfragen schneller abzuarbeiten, gibt es nun die Möglichkeit, Anträge online vorauszufüllen. Bereitgestellt wird das Angebot von der Firma con_sens Digital. nd
Die Bundesregierung hat unter Federführung von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) für diese Menschen ein «Sozialschutzpaket» geschnürt. Eines der Hauptziele dieses Pakets: Es soll in Krisenzeiten einen schnellen Zugang zur Grundsicherung gewährleisten. Denn längst nicht alle werden Arbeitslosengeld I beziehen können, andere werden ihr dürftiges Kurzarbeitergeld aufstocken müssen. Heil fand große Worte für das Paket. Es zeige: «Auf den Sozialstaat kann man sich verlassen.»
«Der Ton ist bitterer geworden»
Konkret heißt das: Wer neu Hartz IV beantragt, bekommt es mit dem neuen Beschluss direkt und muss nicht zuerst das eigene Vermögen aufbrauchen. «Auf Grund der aktuellen Situation findet eine Vermögensprüfung (...) nur statt, wenn erhebliches Vermögen vorliegt», heißt es in einem Erklärvideo der Bundesagentur für Arbeit. Dass kein «erhebliches» Vermögen von 60 000 Euro vorliegt, muss lediglich erklärt werden. In Nicht-Coronazeiten gilt dagegen beispielsweise schon ein Auto mit einem Restwert von mehr als 7500 Euro für eine 40-jährige Person ohne Kinder als Vermögen, das aufzubrauchen ist.
Auch bei Miet- und Wohnkosten gelten derzeit andere Regeln: Hier wird bei neu gestellten Anträgen für Hartz IV auf die Prüfung verzichtet, ob die Wohnfläche «angemessen» sei. Stattdessen werden Miete und Heizkosten in voller Summe erstattet. Dazu können Anträge erstmals telefonisch oder online gestellt werden, beides ohne zusätzliche persönliche Vorsprache. Und mit einfacheren Anträgen über fünf Seiten, die auf der Webseite der Bundesagentur heruntergeladen werden können. Sonst sind es mit Anlagen teils mehr als 40 Seiten. Das Prinzip der Bedarfsgemeinschaft für Menschen, die einen Haushalt «wirtschaftlich gemeinsam betreiben», gilt weiterhin.
Zwar sind auch Weiterbewilligungen unbürokratischer möglich. Die neuen Regeln gelten jedoch fast ausschließlich für jene, die in Zeiten von Corona neue Anträge auf Hartz IV stellen - nicht für Menschen, die zuvor schon im Bezug waren. «Wir haben eine Zweiklassengesellschaft der Erwerbslosen», kritisiert Harald Thomé, Jurist bei der Erwerbsloseninitiative Tacheles.
«Auf der einen Seite haben wir nun die ›guten Erwerbslosen‹. Die, die nichts für ihre Situation können, weil Corona daran schuld ist. Auf der anderen Seite gibt es die restlichen Beziehenden, die schlechter gestellt sind. Dabei sind sie in den allermeisten Fällen genauso unverschuldet in die Erwerbslosigkeit oder ins Aufstocken gerutscht wie jetzt die Corona-Arbeitslosen.» Er fordert daher, dass die Übernahme der vollen Mietkosten auch für die bestehenden Beziehenden, inklusive denen in der Altersgrundsicherung und Asylbewerber*innen, gelten muss.
Laut einer kleinen Anfrage der Linken im Bundestag musste schon 2015 jede*r fünfte Hartz-IV-Bezieher*in im Schnitt 80 Euro aus eigener Tasche auf die Miete draufzahlen. Eine erhebliche Summe angesichts eines Regelsatzes von derzeit 432 Euro. Das Problem: Die angemessenen Mietkosten sind gerade in Großstädten angesichts der horrenden Mietpreise viel zu niedrig angesetzt. So gilt in Frankfurt am Main für eine Person eine Kaltmiete von 382 Euro für eine Wohnung aus den 70er Jahren oder 10,90 Euro pro Quadratmeter noch als «angemessen». Dieser Betrag ist vom Jobcenter zu übernehmen. Wo man so eine Wohnung in der Mainmetropole finden soll - unklar. Das Statistikportal Statista zeigt selbst für abgelegene Stadtteile Medianmieten von 11,45 Euro an.
Auch die ehemalige Jobcentermitarbeiterin Inge Hannemann nimmt großen Frust bei den aktuellen Hartz-IV-Empfänger*innen wahr: «Ich bekomme ohnehin immer viele E-Mails. Aber der Ton jetzt hat sich noch einmal entschieden verändert, er ist viel bitterer geworden.» Viele Hartz-IV-Beziehende oder Menschen, die Altersgrundsicherung erhalten, fühlten sich veräppelt.
Selbst die FDP fordert mehr Geld
Erschwerend kommt hinzu, dass zahlreiche Unterstützungsangebote für arme Menschen wegfallen: Die Hälfte aller Tafeln in Deutschland musste bereits schließen; wo sie weiterlaufen, gibt es weniger Lebensmittel zu verteilen. Und in den Supermärkten herrscht in den Regalen mit den günstigen Grundnahrungsmitteln oft gähnende Leere.
«Schon unter Normalbedingungen ist der Hartz-IV-Satz mit 432 Euro viel zu niedrig. Wir bräuchten regulär schon mindestens 150 Euro mehr.» Und nun ohne Tafeln und mit vielen ausverkauften Lebensmitteln gerade bei den günstigen Produkten, berichten mir viele: ›Ab dem 15. des Monats wird es eng‹«, sagt Hannemann. Denn die Kosten laufen auch in Coronazeiten, Menschen müssen weiter aus eigener Tasche auf die Miete draufzahlen.
Mittlerweile setzen sich nicht nur Aktivist*innen wie Hannemann, Thomé, der Linken oder den Grünen für höhere Regelsätze ein - selbst Politiker*innen der FDP fordern eine Anhebung des Regelsatzes um immerhin 64,80 Euro mindestens, wenn auch nur befristet für die Coronazeit. Hannemann hofft auf einen politischen Lerneffekt: »Dass Hartz IV nicht zum Leben reicht, wird in dieser Zeit besonders deutlich.«
Arbeitsminister Heil hatte in der Sendung »Hart aber Fair« angekündigt, einen Zuschlag für arme Menschen zu prüfen. Dabei ist es aber auch geblieben. Auf Anfragte erklärte das Bundesarbeitsministerium »nd« nur vage, dass es »im engen Austausch« mit anderen Ressorts innerhalb der Bundesregierung sowie den Ländern stünde, wie soziale Härten, die durch die Coronakrise in verschiedenen Lebensbereichen entstehen, abgefedert werden können.
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