Kontaktloses Lernen
Die Coronakrise zwingt Schüler, Lehrer und Eltern zu einem neuen digitalen Bildungsalltag
Seit Jahren propagieren Wirtschaftslobbyisten das »E-Learning«. Medien wie Smartphone und Tablet, so vereinbarten Bund und Länder im lange umstrittenen »Digitalpakt«, sollen schon in den Grundschulen als zentrales Arbeitsinstrument dienen. Die Bedenken von Praktikern, die den engen persönlichen Kontakt zwischen Lernenden und Lehrenden für unverzichtbar halten, wurden weitgehend ignoriert.
In Zeiten von Kontaktverbot und Homeschooling schreitet die Digitalisierung der Pädagogik mit großen Schritten voran. Die Geräte liefernde Industrie, Softwareanbieter und ihre Interessenverbände wie Bitkom wittern neue Geschäftsfelder. Millionen Eltern, überwiegend Mütter, sind über Nacht zu unfreiwilligen Heimlehrerinnen geworden. Jeden Morgen sitzen sie jetzt mit Nachwuchs und Laptop am Küchentisch. Die ausgesperrten professionellen Lehrkräfte demonstrieren derweil beflissen, dass sie ihren Dienst weiterhin ernst nehmen. Sie verschicken eine Flut von PDF-Anhängen, besonders Kreative nehmen Erklärvideos auf oder versuchen mit Live-Chats die Verbindung zu ihren Schülern aufrecht zu erhalten.
»Niemand kann erwarten, dass die gestellten Aufgaben zu hundert Prozent durchgearbeitet werden«, betont Maresi Lassek, die Vorsitzende des Grundschulverbandes. Ihrer Meinung nach sollten Kinder auf keinen Fall »ganze Vormittage vor Arbeitsblättern verbringen«. Ein bis zwei Stunden täglich für das eigentliche Lernen hält sie für ausreichend. Denn auch im normalen Unterricht wird nicht ständig verbissen gebüffelt. Schule ist vorrangig ein Ort des sozialen Miteinanders, ist eine zweite Welt neben der Familie mit vielfältigen und andersartigen Kontakten, die nun aus Gründen der Seuchenprophylaxe drastisch unterbunden sind.
Digitale Pädagogik funktioniert umso besser, je älter und motivierter die Lernenden sind. Auf weiterführenden Schulen und erst recht an Universitäten hat sie daher ihre Berechtigung, doch auch hier haben Experten Bedenken. Michael Felten, einst Gymnasiallehrer und inzwischen Publizist zu pädagogischen Themen, betrachtet die technisch unterstützte »Selbstlerneuphorie« schon immer skeptisch. In Eigenverantwortung handeln zu können, sei ein wünschenswertes Ziel, doch bei »zu selbstständiger Arbeit lassen Schüler schwere Aufgaben oft links liegen, mit engerer Anleitung hätten sie diese vielleicht gelöst«. Er verweist zudem auf Nachteile für Kinder aus bildungsfernen Familien. In migrantischen Herkunftsmilieus werde Selbstbestimmung häufig weniger geschätzt. Gerade diese Kinder und Jugendlichen bedürften »eines direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts«.
Damit sind viele Eltern derzeit überfordert. Homeschooling bewirkt so eine neue soziale Spaltung. Zum einen geht es darum, ob überhaupt digitale Hardware zu Hause verfügbar ist. Durch den Preisverfall können sich zwar auch einkommensschwache Familien ein Tablet leisten, doch nicht überall sind diese selbstverständlich vorhanden. Noch schwerer aber wiegt das »kulturelle Kapital«, wie es der französische Soziologe Pierre Bourdieu einst genannt hat: Wenn Mama und Papa Abitur oder gar studiert haben, sind sie einfach besser qualifiziert für ihre unfreiwillige Tätigkeit als Aushilfspädagoge.
Laut John Hatties Buch »Visible Learning«, einem Klassiker der empirischen Bildungsforschung, bleibt die Lehrer-Schüler-Beziehung »die größte Wirkkraft« für den Lernerfolg. Basis erfolgreicher Pädagogik sei keineswegs die Technik, sondern emotionale und soziale Intelligenz. »Der Mensch ist für andere Menschen die Motivationsdroge Nummer eins«, fasst der Freiburger Psychosomatiker Joachim Bauer knapp zusammen. Enger persönlicher Kontakt entscheidet über gute oder schlechte Leistungen. Digitale Medien können helfen, diesen Kontakt herzustellen. Sie haben aber nur eine unterstützende Funktion - auch in Zeiten von geschlossenen Schulen.
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