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Geht das Gehirn beim Fernsehen auf null?
Dr. Schmidt erklärt die Welt
Wenn man jetzt so lange zu Hause sitzt, schaut man schon ziemlich viel auf Bildschirme. Zum Arbeiten, aber auch um sich zu zerstreuen. Und ob man nun richtig Fernsehen guckt oder ob man irgendwas streamt, ich las mal, dass dann die Hirntätigkeit gegen null gehen würde.
Das scheint mir sehr gewagt. Das Gehirn schaltet eigentlich nie so richtig ab, nicht mal im Schlaf. Der Leistungsverbrauch des Gehirns ist auch im Ruhezustand ziemlich hoch. Was wahrscheinlich hinter der These steckt: Denkt man die ganze Zeit? Bloß, was bitte ist Denken? Selbst wenn ich irgendwas Banales im Fernsehen gucke, gibt es da Möglichkeiten. Entweder ich folge der Handlung, oder ich schweife ab.
Dr. Steffen Schmidt, Jahrgang 1952, ist Wissenschaftsredakteur des »nd« und der Universalgelehrte der Redaktion. Auf fast jede Frage weiß er eine Antwort - und wenn doch nicht, beantwortet er eine andere.
Foto: nd/Ulli Winkler
Ich erlebe einen Unterschied, ob ich ein willkürlich gewähltes Fernsehprogramm sehe oder ein Buch lese. Beim Fernsehen fängt man an, über andere Sachen nachzudenken. Wenn ich zur Entspannung ein Buch lese, dann ist das nicht so.
Aber wenn du abschweifst, ist das Gehirn ja nicht auf null. Es gibt ja gerade über das Fernsehen die verschiedensten bildungsbürgerlich angereicherten Vorurteile. Dass da vieles Müll ist, steht außer Frage, aber da ist das Fernsehen nichts Besonderes. Und regelmäßig wird verkündet, wer sein Leben lang zu viel Fernsehen guckt, wird schneller dement. Allzu wissenschaftlich geht’s da aber oft nicht zu. An einer der besseren Studien, die lief immerhin über 25 Jahre, wurde von Kritikern sofort bemängelt, dass die kognitiven Fähigkeiten nur am Ende gemessen wurden, nicht auch am Anfang. Die Leute, die später Schwierigkeiten hatten, bestimmte gedankliche Operationen schnell abzuwickeln oder sich bestimmte Sachen gut zu merken, die waren möglicherweise auch am Anfang nicht die besten.
Die Fernsehkritik setzt ja schon mit dem Start des Fernsehens ein. In den 50er Jahren hat der Philosoph Adorno vor der Unwirklichkeit des Fernsehens gewarnt, weil die Fernsehfiguren miniaturisiert werden.
Bei den ersten Fernsehern hatte er physisch recht, denn die Bildröhren waren im Vergleich zu dem Zeug, was sich die Leute heute an die Wand hängen, lächerliche Briefmarken. Ansonsten sieht man bei vielen dieser Kritiken ein Phänomen, was so alt ist wie die Philosophie. Du findest das schon bei Platon, der seiner Figur Sokrates, der ja selber nichts geschrieben hat, den Gedanken in die Schuhe schiebt, schon das Lesen und Schreiben sei ein furchtbarer Kulturrückfall, weil es die wertvolle Kulturtechnik des Auswendiglernens ruiniere.
Für Adorno war Fernsehen der traumlose Traum.
Das könnte man allen Bebilderungen vorwerfen. Das fertige Bild einer Sache fesselt meine Fantasie. Wenn ich eine Geschichte lese, dann hab ich meinen eigenen Film dazu im Kopf. Und wenn ich den Film vorgesetzt bekomme, bleibt nur eine Variante und mit der muss ich leben.
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