Nächstenliebe im Souterrain

Die Coronakrise trifft nicht nur die Hamburger Obdachlosen hart - auch die Helfer kämpfen am Limit

  • Reinhard Schwarz, Hamburg
  • Lesedauer: 7 Min.

»Die Stimmung? Die ist momentan scheiße. Ich wünsche mir, dass das mit Corona bald vorbei ist. Alles geht kaputt.« Es sind die ersten warmen Frühlingstage, Markus Mühlbacher steht mit freiem Oberkörper in einer Seitenstraße der Reeperbahn und lässt Dampf ab. Seit zwei Jahren ist der 51-Jährige ohne Wohnung, er gehört zu den Obdachlosen, die am Rande der Reeperbahn nächtigen. Einige haben die Decke über den Kopf gezogen, lagern neben dem geschlossenen Schnellrestaurant Kentucky Fried Chicken. Die Coronakrise hat jene ohne Dach über dem Kopf kalt erwischt. Dort, wo auch tagsüber Tausende flanieren, verirren sich gerade mal ein paar Dutzend Touristen auf die »geile Meile«. Restaurants, Discos, Theater und Cafés sind dicht.

»Die Laufkundschaft fällt weg«, resümiert Mühlbacher mit rauer Stimme. Denn Touristen werfen, wenn sie in Spendierlaune sind, schon mal einen Euro oder mehr in die bereitgestellten Becher. Und manche suchen das Gespräch mit den am Straßenrand Lagernden - wichtige Sozialkontakte für Menschen, die sich schon optisch ausgegrenzt fühlen. »Wir sind auch Menschen wie die«, empört sich der 51-Jährige.

Immerhin: Der Kiez, wie St. Pauli in Hamburg umgangssprachlich genannt wird, hilft sich selbst. Eine vielfältige private Hilfsaktion ist mittlerweile angelaufen. Im Mittelpunkt steht Daniel Schmidt, Inhaber des legendären »Elbschloss Keller«. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten musste die berühmt-berüchtigte Absturzkneipe schließen. Hier treffen sich sonst rund um die Uhr die Ausgestoßenen, Menschen, die irgendwann den Absprung verpasst haben. Wer hier etwa im Kickerraum einschläft, wird geduldet. Bekommt vielleicht noch eine Decke über die Schultern gelegt. Nächstenliebe im Souterrain der Gesellschaft.

»Wer, wenn nicht wir«, heißt das Projekt, in dessen Zentrum der »Elbschloss Keller« steht. Einmal am Tag geben ehrenamtliche Mitarbeiter*innen ein Essen aus. Für Hungrige gibt es außer der Reihe »Sandwiches to go«. Ein »Bedürftigen-Transport« bringt Lunchpakete zu Menschen, die nicht mehr aus ihrer Wohnung kommen können. »Die bekommen die Kiste vor die Tür gestellt«, schildert Daniel Schmidt. Nicht alle Hilfsbedürftigen auf St. Pauli leben auf der Straße. Die Armut findet wie anderswo auch oftmals hinter verschlossenen Türen statt. »Jeder opfert seine Freizeit«, erläutert Daniel Schmidt die Privatinitiative, »hier arbeiten Menschen aus sieben Nationen zusammen.« Auch Tüten mit Hygieneartikeln werden verteilt. Ein zweites Fahrzeug bringt Obdachlose oder Menschen mit Beeinträchtigungen zum St. Pauli Schwimmbad. Jeweils montags, mittags und samstags können hier Obdachlose und andere Bedürftige jeweils eine halbe Stunde lang duschen.

Ein tägliches Mittagessen gab es bis zur Coronakrise auch in dem Projekt »MAhL ZEIT« in Altona-Altstadt. Doch das ist aktuell nicht mehr möglich. In einem roten Backsteinbau aus der wilhelminischen Ära konnten Wohnungslose sich aufhalten, gab es morgens auch ein Frühstück. Alles gestrichen. »Wir sind seit mehr als 14 Tagen geschlossen«, schildert Marion Laux, Leiterin der »MAhL ZEIT«. »Vor der Coronakrise kamen täglich etwa 120 bis 160 Obdachlose und Bedürftige hierher.« Die Betroffenen konnten hier duschen, sich unterhalten, Kaffee trinken, Schutz vor der Kälte suchen. Jetzt packen in dem riesigen Saal im ersten Stock der evangelisch-lutherischen Einrichtung ehrenamtliche Helferinnen Lunchtüten, die anschließend bei Treffs von Menschen ohne Zuhause verteilt werden sollen.

Mit dabei ist der Initiator der Aktion, Max Bryan, der selbst 18 Monate obdachlos war und das Leben auf der Straße kennt. »Das ist bereits die dritte Aktion, bei der wir Lunchpakete verteilen«, sagt er. Bei der ersten Verteilaktion standen lediglich 100 Euro zur Verfügung, durch einen Spendenaufruf im Internet kamen 600 Euro zusammen. 30 Tüten mit Osterleckereien und nichtverderblichen Esswaren konnten so gekauft werden. Zudem ist an jeder Tüte jeweils ein Zwanzigeuroschein geheftet. »Damit die Leute, wenn die Tüte leer ist, sich etwas nachkaufen können«, so Bryan.

Dann geht es zur Reeperbahn, die aber nur die erste Station ist. Die Tüten sind schnell verteilt. Unter denjenigen, die sich ein Lunchpaket abholen, ist auch ein Bulgare, wie er sagt. Die Verständigung fällt schwer. Seit Öffnung der Grenzen habe das Elend der Obdachlosigkeit noch zugenommen, konnte Marion Laux beobachten: »Es kommen viele Menschen aus Spanien, England, Österreich, aus Ländern wie Rumänien, Bulgarien und Polen.« Eine Frau kommt zu spät, auch sie will noch ein Paket abhaben. Doch die Helfer wollen weiter. Die Frau geht leer aus. Die restlichen Pakete müssen noch für Obdachlosentreffs in der Innenstadt oder am Hauptbahnhof reichen.

Das offizielle Übernachtungsangebot der Stadt wird häufig nicht angenommen, berichten Sozialhelfer, da viele nicht mit mehreren Menschen in einem Raum schlafen wollen oder können. Darüber hinaus fürchten nicht wenige, dass sie beklaut werden. Sie ziehen es vor, auch im Winter draußen zu schlafen. Die Initiative »Open the Hotels« hat gefordert, dass leer stehende Hotels während der Coronakrise Menschen ohne Obdach aufnehmen. Das werde von der zuständigen Sozialbehörde abgelehnt, kritisiert Stefanie Rose von der Linksfraktion in der Bürgerschaft. Mittlerweile hat tatsächlich ein Hotel seine Pforten für Obdachlose geöffnet.

»Die Lage seit Corona ist schlecht«, sagt Robert Nilsson. Der 55-Jährige lebt kurzzeitig im »Harburg Huus«, eine Obdachloseneinrichtung im Hamburger Süden. »Mit den Behörden läuft gar nichts«, fährt Nilsson fort. »Man kann eine E-Mail schreiben, kriegt aber keine Antwort.« Er liege »im Clinch« mit den Behörden, berichtet der gelernte Tischler. Alles laufe sehr schleppend. »Herr Nilsson wurde obdachlos und ist frühzeitig zu uns gekommen, um eine Lösung für sich zu finden«, erläutert Thorben Goebel-Hansen, Leiter des »Harburg Huus«. Das »Huus« (plattdeutsch für Haus) ist eine kleine Besonderheit unter den Einrichtungen für Obdachlose in dem Stadtteil südlich der Elbe: Hier dürfen auch Menschen mit Hunden unterkommen, die anderswo in der Regel verboten sind. Doch für viele Obdachlose ist ihr vierbeiniger Wegbegleiter der wichtigste Sozialkontakt - und Schutz.

Mit seinen sauberen, kleinen Zimmern mit doppelstöckigen Betten und dem schmucken Aufenthaltsraum wirkt der Backsteinbau, der früher einmal eine Fabrik beherbergte, wie eine kleine Jugendherberge. Doch hier kehren keine Jugendlichen ein, sondern Menschen mit einem Bruch in der Biografie. Zu ihnen gehört auch Christian Przybylla, in Polen geborener Spätaussiedler, der 1988 nach Deutschland kam. Dem Industriemechaniker wurde vor rund einem Jahr die Wohnung gekündigt. Seitdem ist der 55-Jährige obdachlos. Durch die Coronakrise habe sich für ihn nicht viel geändert, räumt der bescheiden wirkende Mann mit dem schwarzen Vollbart ein: »Wir haben hier alles vor Ort, nur Behördengänge fallen weg. Aber Arztbesuche nehme ich weiter wahr, wegen meines Bluthochdrucks.« Er ist weiterhin krankenversichert.

Träger des »Harburg Huus« ist der DRK-Kreisverband Hamburg-Harburg. Das »Huus« ist eine relativ kleine und junge Einrichtung, die vor anderthalb Jahren eröffnet wurde und für den laufenden Betrieb kontinuierlich auf Spenden angewiesen ist. »Wir haben hier 15 Übernachtungsplätze und 20 Plätze im Tagesaufenthalt«, zählt Goebel-Hansen auf. »Über den Tag verteilt kommen rund 50 Gäste zu uns.« Die gespendeten Lebensmittel liefert die Hamburger Tafel. Doch seit den behördlichen Einschränkungen habe sich die Situation komplett verändert. »18 der Ehrenamtlichen kommen nicht mehr, auch unsere zwei Praktikanten und die zwei FSJler (Freiwilliges Soziales Jahr, d. Red.) sind vorerst nicht mehr vor Ort«, schildert Goebel-Hansen. Übrig seien zehn Kolleg*innen im Dreischicht-Betrieb. »Wir arbeiten am Limit.«

Viele Angebote für die Obdachlosen fallen jetzt weg, berichtet Sozialhelferin Sara-Maria Unverzagt. »Unsere Einrichtung basiert auf menschlicher Nähe und Wärme. Unser Freizeitangebot mit Kunst- und Musikprojekten oder Brettspielen liegt auf Eis. Auch unser Sportprogramm liegt brach.« Ausflüge und Fahrten finden nicht mehr statt. Ziel sei es, den Betroffenen »einen Perspektivwechsel zu ermöglichen, etwa als Fußballfan, Musikliebhaber oder Museumsbesucher«. Sara-Maria Unverzagt: »Die Menschen, die hier herkommen, hatten ein Leben vor der Obdachlosigkeit. Wir wollen, dass sie diese Interessen wieder entdecken. Das fällt jetzt durch Corona alles weg.«

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