Todeszug nach Poing

Schüler recherchierten die Evakuierung von Häftlingen einer Außenstelle des KZ Dachau in den letzten Kriegstagen

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 8 Min.

Mühldorf war eines dieser kleinen KZ-Außenlager, deren Existenz bis heute kaum bekannt ist. Es war ein Außenlager des Konzentrationslagers Dachau vor den Toren Münchens, sein alleiniger Zweck bestand darin, eine unterirdische Flugzeugfabrik aufzubauen. Und dies in den letzten Tagen des Krieges. Die Nazis gaben bis zuletzt nicht auf. Als der Krieg längst und ganz offensichtlich verloren war, investierten sie die letzten Ressourcen dieses Landes nicht in den Schutz der Bevölkerung, sondern in sinnlose Versuche, das Ruder doch noch herumzureißen. Dies geschah durch brutale Ausbeutung der KZ-Häftlinge, die sie von überall her zusammen geschleppt hatten. Viele von ihnen kamen aus Auschwitz. Einer von ihnen war Max Mannheimer. Theresienstadt, Auschwitz, Warschau und dann Dachau, eben Mühldorf. Das waren die Stationen seiner Leidensgeschichte. Die 5000 Häftlinge in Mühldorf hatten fast alle eine ähnliche Odyssee durch verschiedene Konzentrationslager wie Max Mannheimer erlebt.

Am 25. April war die Front, waren die Amerikaner, so nahe, dass der Traum von der Flugzeugfabrik aufgegeben werden musste - für jeden noch so verbissenen Nazi eine unausweichliche Erkenntnis. Der Mühldorfer Bahnhof war durch einen Bombenangriff der Alliierten völlig zerstört. 3600 Häftlinge des KZ Mühldorf wurden von ihren Bewachern in 60 bis 80 Waggons getrieben, die im benachbarten Mettenheim auf sie warteten. Etwa 500 Häftlinge, vor allem Typhuskranke, wurden zurückgelassen.

»Güterwagen stehen auf dem Gleis für uns bereit«, erinnerte sich Max Mannheimer. »Ich bin sehr abgemagert und muss direkt aus der Krankenbaracke in den Wagen geführt werden. Fünf Wochen Typhus haben mich sehr geschwächt. Auf meinen Bruder gestützt, erreiche ich den Wagen. Ich fühle mich in Sicherheit - geborgen.« Aber so war es nicht. Ganz im Gegenteil. Noch einmal war ihr Leben in höchster Gefahr.

ndPodcast zum 8. Mai - Von Tim Zülch

Schon allein durch die Umstände des Transportes, wie sich ein anderer Zeuge erinnert: »Wir marschierten zu den inzwischen wohlbekannten Viehwaggons. Es war alles wie üblich - Stroh, Enge, schlechte Luft. Wieder erhielten wir eine Tagesration Brot, wieder wurden wir in die Viehwaggons gepfercht, wieder wurden die Türen zugeschlagen, und wieder begann der Alptraum einer Reise ins Ungewisse. Dieser Transport war unter den vielen, die ich überstanden habe, wohl einer der schlimmsten. Einige tausend Männer und Frauen waren getrennt in die Züge gestopft worden, so viele nur hineingingen. Wir waren wie die Sardinen in einer Konservendose, ohne Luft, ohne Wasser und ohne Nahrung.«

Dieses Zitat stammt von dem ehemaligen Häftling Jacob Bresler. Schüler des Franz-Marc-Gymnasiums in Markt Schwaben haben es gefunden und für eine Ausstellung über den Todeszug von Mühldorf nach Tutzing verwendet. Jede Station des Todeszuges ist dort genau dargestellt, und es waren nicht wenige. Immer wieder hielt der Zug für längere Zeit an. Oft waren Angriffe von Tieffliegern der Grund. Genauso oft war es für die Häftlinge nicht verständlich, warum es nicht weiterging, warum alles so langsam voranging. Nach zwei Tagen erreichte der Zug schließlich Poing. Da hatte er eine Strecke von gerade einmal 60 Kilometern zurückgelegt.

Der Zug blieb dort liegen, weil die Lokomotive defekt war. Am Nachmittag geschah etwas Unerwartetes: Die Wachmannschaften erhielten die Nachricht, der Krieg sei vorbei. Es war eine Falschmeldung, die wahrscheinlich von der Freiheitsaktion Bayern verbreitet worden war.

»Auf einmal hieß es, dass der Krieg zu Ende sei und dass wir frei wären. Ich habe gesehen, dass einige der Wachmannschaften ihre Gewehre wegwarfen und davonliefen. Daraufhin machte sich auch ein Teil der Häftlinge selbstständig. Sie liefen vom Zug weg, wahllos nach allen Richtungen«, so der ehemalige Häftling Baer.

Nach und nach verließen die Häftlinge den Zug. Zuerst brachen sie den Lebensmittelwaggon auf. Dann suchten sie ihr Heil in der Flucht. Einige von ihnen wurden von den Einheimischen mit Lebensmitteln versorgt. Manche konnten sich sogar bei den Bauern der Umgebung bis zum Kriegsende verstecken. Inzwischen aber war klar geworden, dass der Krieg keineswegs zu Ende war. Sowohl eine SS- wie auch eine Luftwaffeneinheit machten sich gemeinsam mit Hitlerjungen und anderen Einwohnern von Poing auf den Weg, um die verstreuten Häftlinge wieder einzufangen. Dann kam es zu dem Ereignis, das als »Massaker von Poing« in die Geschichte eingegangen ist.

Die Soldaten trieben die Häftlinge mit Schüssen in den Zug zurück. 50 wurden erschossen, mindestens 200 verletzt. »Wir waren etwa zehn Kilometer von Poing entfernt, als uns auf der Straße ein SS-Oberscharführer mit einer Gruppe SS und Luftwaffenmännern einholte und uns fragte, wohin wir gehen würden. Einer von uns sagte, dass wir nirgendwo hingehen würden, da der Krieg vorbei sei. Er wurde dann erschossen. Der Oberscharführer befahl uns mitzukommen. Als wir zögerten, schossen die Soldaten mit Maschinengewehren und töteten drei von uns. Mich trafen sie am Fuß. Wir wurden dann in den Wald neben der Straße geführt, wo wir 18 Überlebenden in einer Reihe aufgestellt wurden. Manche von uns, darunter ich, wurden bestimmt, die Leichen von der Straße zu holen. Die zwölf anderen, die zurückblieben, wurden dann in Dreiergruppen erschossen. Als wir mit den Leichen zurückkamen, erschossen die SS-Leute drei von uns. Zu meinem Glück kam in diesem Moment ein Zivilist und fing an, mit dem Oberscharführer zu streiten.« Diese Aussage hat Tsaak Hazak nach dem Krieg zu Protokoll gegeben, die Schüler stöberten sie bei ihrer Recherche in zahlreichen Archiven auf.

Die SS zwang die Häftlinge, ihre toten Kameraden in den Zug zu werfen. Nach einer Stunde waren alle wieder zurück in den Waggons, nur wenigen war die Flucht gelungen. Der Zug fuhr weiter in Richtung München. Dort wurde er wegen seiner Länge geteilt und beide Zugteile fuhren in verschiedenen Richtungen weiter. Immer wieder kam es zu Tieffliegerangriffen. Während eines solchen Angriffs in der Nähe des Klosters Beuerberg verließ ein Teil der Häftlinge den Zug, um sich mit Essen zu versorgen, das die Klosterschwestern bereitgestellt hatten. Einige versuchten dabei, in den nahe gelegenen Wald zu fliehen. Auch sie wurden von der SS wieder gefangen genommen, mindestens 20 Häftlinge wurden erschossen. Der Rest wurde in den Zug zurück gezwungen. In beiden Zügen befanden sich auch Verletzte des Massakers von Poing. Es gab keine medizinische Versorgung, so dass viele ihren Verletzungen erlagen.

Die Schüler des Franz-Marc-Gymnasiums haben mit Hilfe ihres Lehrers Heinrich Mayers all die Aussagen zusammengetragen. Sie haben in Archiven nach Dokumenten geforscht, Prozessakten durchgearbeitet, Zeitzeugen gesucht und mit Überlebenden des Todeszuges gesprochen. Schwieriger war es, Einheimische zu finden, die sich erinnern wollten. Erst nach der Ausstellungseröffnung haben sich Zeugen brieflich gemeldet, die damals selbst noch Kinder oder Jugendliche waren und geschockt von dem, was sie erleben mussten. Aber sie waren ja nicht verantwortlich.

Dabei mussten sich die Poinger doch gar nicht verstecken. Die Aussagen der ehemaligen Häftlinge zeigen, dass es die Einen wie die Anderen gab: diejenigen, die ihnen halfen, und diejenigen, die sich eifrig an der Verfolgung beteiligten.

Die Schüler haben ihre Arbeit als große Bereicherung erlebt. Ihr Engagement ging weit über das hinaus, was in der Schule sonst gefordert wird: »Ich lebe schon mein ganzes Leben in Markt Schwaben«, so bekundet Lisa Brandt, »und hatte dennoch bis vor etwa einem Jahr nie etwas von einem Massaker in Poing gehört. Am interessantesten war für mich die Arbeit mit den Zeitzeugen. Was diese heute alten Menschen damals über sich ergehen lassen mussten, wie die Erlebnisse ihr Leben geprägt haben, hat mich tief bewegt.«

Die Entdeckung neuer Zeitzeugen war der Höhepunkt ihrer Arbeit. Einer von ihnen war Laszlo Schwartz, der während des Massakers verwundet wurde und nach dem Krieg in die USA auswanderte. Dort haben ihn die Schüler ausfindig gemacht. Er ist ihrer Einladung gefolgt. Später hat sogar das bayerische Schulfernsehen einen Film über seine Geschichte gedreht.

Auch der inzwischen verstorbene ehemalige Präsident der Lagergemeinschaft Dachau Max Mannheimer gehörte zu den Besuchern im Markt Schwabener Gymnasium. Wie schwierig es mit dem Gedenken ist, zeigt gerade sein Beispiel: Kaufbeuren hat dem Todeszug, dessen Station es war, ein Mahnmal gewidmet. Die Gemeinde Seeshaupt die besagte Ausstellung auf Dauer gezeigt. Und in Mühldorf findet sich keine politische Mehrheit, die Hans-Gollwitzer-Straße nach Max Mannheimer umzubenennen. Gollwitzer hat zwar als Bürgermeister den Ort den Amerikanern kampflos übergeben und wird deshalb bis heute geehrt. Aber er war auch überzeugter Nationalsozialist und 1929 Gründungsmitglied der örtlichen NSDAP.

Die Erinnerungen Max Mannheimers an seine Befreiung waren zwiespältig: »Plötzlich gibt es Alarm. Unsere Wachen, die den Zug umstellt haben, sind verschwunden. Ein amerikanischer Tieffliegerangriff richtet seine Geschosse auf die beiden Züge Wir verlassen fluchtartig die Waggons und laufen in die Felder. Kann es wahr sein? Ist der Krieg zu Ende? Einige Mithäftlinge kommen bei dem Fliegerangriff um. Jetzt, in letzter Minute. Auch ein Freund von uns. Ingenieur aus Prag. Fünf Jahre hat er durchgestanden. Umsonst.«

Die Freiheit währte nicht lange. Wieder trieb die SS die Häftlinge zurück in den Zug. Doch dann war die US-Armee endlich da: »Zwei Sanitäter nehmen sich der Kranken an. Legen sie auf Feldbetten. Waschen sie. Geben ihnen Stärkungsmittel. Ambulanzwagen kommen. Die Schwächsten sollen in ein Krankenhaus gebracht werden. Wir sind wieder Menschen. Wir sind frei.«

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