Die Poetik der Blaualge

Christian Schulteisz’ Romanporträt des Wanderers, Privatgelehrten und intellektuellen Tausendsassas Jürgen von der Wense.

  • Frank Schäfer
  • Lesedauer: 4 Min.

Jürgen von der Wense ist einer dieser genialischen Quadratschädel, von denen es in der deutschen Literatur gar nicht so viele gibt. Er versucht sich eine Weile als neutönender »Komponichts«, ist unter anderem bekannt mit Arnold Schönberg, publiziert gegen Ende des Ersten Weltkriegs als neue Hoffnung des Expressionismus in Franz Pfemferts Zeitschrift »Die Aktion«, mischt beim Spartakusaufstand in Berlin und in der Münchener Räterepublik mit und zieht sich in den 20er Jahren ganz aus der Öffentlichkeit zurück.

Ausgestattet mit der Leibrente einer wohltätigen Mäzenatin, führt er für den Rest seines Lebens eine Existenz als Privatgelehrter und gibt sich abseitigen Studien hin, übersetzt aus dem Chinesischen, dem Sanskrit, aus allerlei afrikanischen, nordischen und Südsee-Dialekten, forscht zur Ethnologie, Geografie, Geologie, Mineralogie, Astrologie, Meteorologie, Musik-, Religions- und Philosophiegeschichte.

Wense (1894-1966) ist ein unersättlicher Wissensschlucker, ein Grenzgänger zwischen den Professionen, ein Virtuose des Diversen, der immer neue Abzweigungen zu wieder neuen Wissensgebieten entdeckt und dabei zu einem gigantischer Verzettler wird. Er will die von ihm erschlossenen Geistesbestände nämlich nicht einfach akkumulieren, sondern in Bezug setzen, ihren kleinsten gemeinsamen Nenner finden und in einem »All-Buch« zusammenfassen. »Weil er zu sehr Alles wollte, wurde aus Allem zunächst nichts. Herr über 1001 Fragmente, ging er dann doch in ihnen unter«, schreibt ein verständnisvoller Ulrich Holbein, ein ähnlich temperierter Charakter wie Wense, in seinem »Narratorium«.

Geboren in Ostpreußen, wächst er nach dem Tod seines Vaters und dem psychischen Zusammenbruch seiner Mutter in Rostock bei Verwandten auf. In Berlin probiert er verschiedene Studien aus und arbeitet als Buchhändler. Doch das hat nicht viel zu sagen. Jahrzehntelang existiert er, vom Broterwerb befreit, in der splendiden Isolation seiner Studien. Als die Nazis an die Macht kommen, kann er sich ihnen eine Weile noch durch unstetes Herumwandern entziehen, aber als er sich wegen der berühmten Bibliothek Ende 1940 in Göttingen niederlässt, wird er schließlich doch zum Arbeitsdienst verdonnert und eicht in den nächsten Jahre Radiosonden für den militärischen Wetterdienst.

Hier setzt Christian Schulteisz’ kurzes, aber ambitioniertes Romanporträt »Wense« ein, das nun erschienen ist. Dem elitären, eigenbrötlerischen, aber eben auch kosmopolitischen Selbstdenker wird ein Platz zugewiesen im nationalsozialistischen System - und er passt sich an, funktioniert, sogar mehr als das: Die Fabrikleitung ist so zufrieden mit seiner Arbeit, dass sie ihm sukzessive mehr Verantwortung überträgt. Er spielt gar mit dem Gedanken, den Arbeitsdienst irgendwann in eine bürgerliche Karriere zu überführen. Die Mutter, alter Adel, rümpft darüber nur die Nase. Was werde dann aus seinem »Werk«?

»Wense« ist allerdings kein Porträt eines Mitläufers nolens volens. Das kann man schade finden, denn wie sich der heilige Narr mit den Nazis intellektuell arrangiert - das zu erzählen, hätte sich ebenfalls gelohnt. Aber Schulteisz interessiert etwas anderes, der originäre Künstler, und ihm geht es darum, dessen Methode des geistigen Herumtreibens narrativ nachzubilden.

»Wense« hat also aus gutem Grund keinen richtigen Plot. So wie sein Protagonist verliert sich der Autor in dessen umfänglichem Werk. Schulteisz treibt ein assoziatives Spiel mit dem Material, das ein kalkuliertes Verirren mit einschließt. Und er frönt einem anarchischen Beziehungszauber, in dem sich potenziell alles in allem spiegeln kann. So wird der flapsige Ausspruch seiner Vermieterin (»Immer wenn man denkt, man sei fertig, kommt noch was angekrabbelt«) ebenso zum Symbol für Wenses monströsen Positivismus wie die Existenzweise einer Blaualge. »Eine einzellige Blaualge weiß zwar nicht, wo sie sich befindet, aber sie weiß, wo ihre Nahrung, wo das Licht ist: außerhalb ihres Körpers. Und weil sie sich dem Licht ja nicht zuwenden kann und es, während sie so trudelt, aus allen Richtungen kommen könnte, hält sie ihre Münder, ihre lichtschluckenden Membransäcke, auch in alle Richtungen offen.«

Und die undomestizierte Natur ist denn auch der passende Ort, die dieser wilde Denker immer wieder aufsucht, weil er hier das Ideal einer geformten Formlosigkeit findet, die auch sein Werk ausmachen soll. Aber all diese symbolischen Analogien sind auch notwendige Tröstungen für einen Solitär, der sich selbst »unheimlich« wird und immer wieder an der eigenen Prätention verzweifelt. »Sein ganzes Werk kommt ihm fade vor verglichen mit den Ereignissen, niedlich und anmaßend«, heißt es gegen Ende des Buches.

Es kann gar nicht anders sein. Das Leben in eine ästhetische Form gepresst, ist eben nicht mehr das Leben. Die Form ist ein Grab. Wense will beides - das Leben und die Form. Sein unabgeschlossenes, unabschließbares, sich in abertausend Verästelungen und Verwurzelungen ausbreitendes, rhizomatisches Werk ist der Versuch einer Annäherung an diesen großen unauflöslichen Widerspruch. Wie unzulänglich und unbefriedigend auch immer.

Die adäquateste literarische Annäherung an Wense wäre wohl eine Loseblattmappe gewesen, die nie ein Verlag zu Gesicht bekommen hätte. Es zeugt von Schulteisz’ Formwillen und auch seinem Formbewusstsein, dass er dieses Leben in eine suggestive Erzählung überführen konnte.

Christian Schulteisz: Wense. Berenberg, 128 S., geb., 22 €.

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