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Ein KZ für Kinder
Polnische Mädchen und Jungen in einem speziellen Lager einzusperren, war eines der perfidesten NS-Verbrechen
Waclawa Stepien war 14 Jahre alt, da wurde sie in ihrem Heimatort Lodz (zu deutsch damals Litzmannstadt) zur Zwangsarbeit verpflichtet. Sie musste als Hausmädchen in einer deutschen Familie arbeiten. Zuvor war sie in die heimliche Schule gegangen, wie eigentlich alle polnischen Kinder und Jugendlichen. Am Widerstand hatte sie nicht teilgenommen. Viele junge Polen waren in der Pfadfinderbewegung aktiv, die an die polnische Untergrundarmee angeschlossen war. Sowohl Waclawas Vater als auch ihr Bruder waren schon verhaftet worden.
Und dann, nach drei Wochen, auch sie: Was man ihr vorwarf, wusste sie nicht. Deshalb konnte sie auf die bohrenden Fragen der Gestapo nicht antworten; auch die brutalen Schläge konnten ihre Antworten nicht erzwingen.
Nach neun Monaten im Gestapogefängnis entließen ihre Peiniger sie an einen anderen Ort: das Polenjugendverwahrlager von Litzmannstadt. Dieses Konzentrationslager für Kinder und Jugendliche - anders kann man es nicht nennen - war von allen perfiden Ideen, die in den Köpfen der Naziführer entstanden waren, eine der widerwärtigsten.
In dem Lager sollten polnische Jugendliche angeblich resozialisiert werden. In Wirklichkeit waren dort von Anfang an auch Kinder, sogar Zweijährige. Es war eine einfache Drohung an die polnische Bevölkerung, die da lautete: »Wir können euch jederzeit eure Kinder wegnehmen, einfach so.« Denn drei Jahre, nachdem die Deutschen das Nachbarland besetzt hatten, war der Widerstand der polnischen Bevölkerung ungebrochen, trotz aller Terrormaßnahmen der Nazibesetzer.
Als Waclawa im Dezember 1942 eingeliefert wurde, war das Lager gerade errichtet worden - auf Befehl des SS-Reichsführers Heinrich Himmler. Der erste Häftlingstransport traf am 20. Dezember ein, es waren 20 polnische Jungen zwischen zwölf und 16 Jahren. Als Waclawa Stepien ankam, erhielt sie im Mädchentrakt die Nummer 11.
»Als mich die Gestapo dort ablieferte, dachte ich, hier komme ich nie wieder weg. Das habe ich gleich gedacht, als ich den riesigen Holzzaun sah, dahinter einen zweiten. Es war abends. An jeder Ecke waren Wachtürme mit Scheinwerfern, die das Lager taghell erleuchteten.
Sie nahmen mir meine Kleider weg. Stattdessen erhielt ich ein graues kratziges Drillichkleid und Holzschuhe, die fürchterlich scheuerten. Außerdem war ich nur noch eine Nummer, mit der uns die Wärter ansprachen. Sie erlaubten uns nicht, unsere Namen zu benutzen. Aber untereinander haben wir es trotzdem getan.«
Schnell füllte sich das Lager. In kürzester Zeit waren dort mehr als 2000 Kinder und Jugendliche interniert. Insgesamt waren dort im Laufe der Jahre zwischen 13 000 und 20 000 Kinder und Jugendliche gefangen. 1943 zählte das Lager, das für 2000 Häftlinge ausgelegt war, fast 8000 Insassen. Etwa ein Drittel von ihnen ist gestorben.
Das Lager befand sich innerhalb des Ghettos von Lodz. Es war doppelt abgeriegelt. Das bedeutete: Die Kinder hatten keinerlei Kontakt nach außen. Niemand konnte Kontakt zu ihnen aufnehmen. Auch nicht die polnische Untergrundbewegung, die sonst zu praktisch jedem deutschen Konzentrationslager auf polnischem Territorium Zugang fand. Die Kinder waren durch einen undurchdringlichen Sperrgürtel von der Außenwelt abgeschnitten und auf sich allein gestellt.
Das war eine absolute Ausnahmesituation. Auch in vielen anderen Konzentrationslagern waren Kinder und Jugendliche inhaftiert, meist unter unmenschlichen Bedingungen. Aber immer gab es auch erwachsene Häftlinge, die versuchten, ihr Leid zu mildern, für sie zu sorgen. Sogar in Auschwitz war das so, wo die erwachsenen Häftlinge die sogenannte Kinderbaracke mit Zeichnungen geschmückt hatten. In Lodz aber, in Litzmannstadt, gab es keine fürsorgenden Erwachsenen, nur die feindseligen, bösartigen Aufseher.
Eine von ihnen war Eugenia Pohl. Eine Polin, die die volksdeutsche Liste unterschrieben hatte. Eine Überläuferin sozusagen, eine Verräterin. Jung, bauernschlau, machthungrig. Ihre Gewalt über die Kinder nutzte sie grausam aus, wie sich Waclawa erinnerte: »Manchmal schien sie gut gelaunt zu sein und wir wollten schon aufatmen und dachten, dieses Mal geht es gut. Aber dann riss sie plötzlich ein Bett auseinander und schrie und tobte. Das Bett war ordentlich gemacht, aber wenn sie wollte , dann fand sie einen Vorwand. Sie hatte immer eine Reitpeitsche bei sich und manchmal schlug sie auf uns alle ein. Oder die Betreffende musste sich aufs Bett legen und die Aufseherin schlug ihr auf den Hintern. Aber am schlimmsten war es, wenn sie der ganzen Stube das Essen strich.«
Wie in anderen KZ für Erwachsene litten die Insassen des Polenjugendverwahrlagers immer unter Hunger. Sie bekamen nie genug zu essen. Morgens gab es ein Stück Brot, dazu etwas Butter oder Marmelade, aber durchaus nicht immer. Mittags gab es einen Dreiviertelliter Suppe. Darin war niemals Fleisch, ein paar Kartoffeln vielleicht und etwas Gemüse. »Meistens brauchten wir nicht einmal einen Löffel, sondern schlürften die Suppe direkt aus dem Napf, weil sie so mehr wärmte.« Milch gab es nie, obwohl sie jeden Morgen ins Lager gebracht wurde. Sie war nur für die SS-Leute bestimmt. Und für die Schweine, die für die Wachmannschaft gemästet wurde. Den Jungen, die die Schweine fütterten, war es streng verboten, daran auch nur zu nippen. Nicht einmal die ganz kleinen Kinder, die Zwei- und Dreijährigen, bekamen davon etwas ab. Ohne die Lebensmittelpakete von zu Hause, so glaubte Waclawa Stepien, wären sie alle verhungert.
Das Jugendverwahrlager war ein reines Arbeitslager. Auf seinem Gelände befanden sich Werkstätten und Fabrikniederlassungen. Die jugendlichen Häftlinge mussten dort zehn bis zwölf Stunden am Tag Schuhe reparieren und Munition sowie schwere Bastmatten und Schneeschuhe für die deutschen Soldaten in Russland herstellen.
Außerdem gab es das landwirtschaftliche Gut Dzierzazna, wo nur Mädchen zwischen zwölf und 16 Jahren arbeiteten. Dort wurden Gemüse, Obst und Kartoffeln angebaut. Die Erzeugnisse wurden verkauft, die Kinder bekamen davon nichts zu sehen. Im Jahr 1944 erwirtschaftete das Gut Dzierzazna einen Reingewinn von 20 000 Reichsmark, der in die Kassen der SS floss.
Waclawa musste zuerst in der Wäscherei arbeiten. »Sie gaben uns kein richtiges Waschmittel, nur so eine Art Scheuersand, der die Hände aufrieb. Außerdem hatten wir nur kaltes Wasser. Ich habe es dort drei Monate ausgehalten, dann mussten sie mir eine andere Arbeit geben. Ich konnte die Haut von meinen Händen einfach abziehen.«
So kam sie auf das Gut Dzierzazna. Eine gute Arbeit sei das gewesen. Schwer zwar, sogar den Pflug mussten die Mädchen selbst ziehen. Aber sie konnten ein bisschen Gemüse oder Kartoffeln beiseite bringen. Nicht dass es ihren Hunger stillen konnte, aber es verhinderte, dass sie an Skorbut erkrankten. Vielen anderen Kindern im Lager fielen die Zähne aus.
Auch die Jüngsten mussten arbeiten. Die unter Fünfjährigen mussten Tüten falten. Der Anteil der kleinen Lagerinsassen wurde immer größer. »Sie benahmen sich wie verängstigte Tiere, wenn wir hereinkamen. Sie versteckten sich unter den Pritschen, weil sie fürchteten, es komme jemand von den Wächtern. Die Deutschen behandelten sie genauso schlecht wie uns, vielleicht sogar noch schlechter. Sie schlugen und bestraften sie, aber es waren doch nur Kinder, die nichts verstanden. Manchmal machte sich die SS einen Spaß daraus, ein Stück Brot zwischen sie zu werfen und zuzuschauen, wie sich die Kleinen darum balgten. Wir Älteren haben versucht, ihnen zu helfen. Aber wir hatten ja selbst nichts. Unsere einzige Hoffnung war, dass der Krieg bald vorüber sein würde und ein paar von ihnen noch überleben würden.«
All das hat mir Waclawa Stepien vor mehr als 35 Jahren erzählt. Ich hatte zufällig vom Jugendverwahrlager erfahren und nach Überlebenden gesucht, die mir darüber berichten konnte. Sie lebt schon lange nicht mehr.
Wie viele Auschwitz-Biografien es gibt. Wie viele Erinnerungen von Häftlingen anderer Konzentrationslager. Wie viele Memoiren von Widerstandskämpfern oder von Menschen, die sich versteckt haben. Aber von den Kindern und Jugendlichen aus dem Lager in Lodz existiert kaum etwas. Auch die Anzahl der Publikationen über sie hält sich in mehr als bescheidenen Grenzen. Ihre Geschichte ist einfach untergegangen unter all dem Leid, das die Nazis über Polen gebracht hatten. Über die Kinder von Auschwitz wissen wir weit mehr. Warum? Weil die erwachsenen Häftlinge sich an sie erinnert und von ihnen berichtet haben.
Vom Jugendverwahrlager existieren keine Spuren. Auf dem Gelände stehen heute Wohnblocks und ein Kindergarten. 1971 wurde dort ein Denkmal errichtet. Aber ein Denkmal, das nicht mit Leben, mit Erinnern gefüllt wird, erzählt nichts.
Einer der Lagerleiter, Heinrich Fuge, war den bundesdeutschen Behörden wohl bekannt. Gegen ihn wurde nie Anklage erhoben. Er lebte bis zu seinem Tod mit über 80 Jahren unbehelligt in Hamburg. Der Aufseherin Eugenia Pohl gelang es nach dem Krieg, mit falschem Namen unterzutauchen. Erst 1974 wurde ihr in Lodz der Prozess gemacht; sie wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt, die sie wegen guter Führung nicht vollständig verbüßen musste.
Waclawa Stepien fand nach ihrer Befreiung 1945, nach über zwei Jahren grausamer Haft, nichts so vor, wie sie es sich erträumt hatte: »Ich rannte den ganzen Weg nach Hause. Und dann die anderthalb Treppen hoch. Aber in unserer Wohnung war alles dunkel. Niemand öffnete auf mein Läuten. Schließlich sagte mir eine Nachbarin, dass die Deutschen meine Mutter vor ein paar Monaten abgeholt hatten. All die Zeit im Lager hatte ich nur überlebt, weil ich mir sicher war, dass meine Mutter mich liebt und auf mich wartet. Aber sie ist in Auschwitz gestorben.«
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