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Nichts und niemand ist vergessen
Wie das Emigrantenkind Bruno Mahlow den deutschen Überfall auf die Sowjetunion und die Befreiung 1945 erlebte
Bruno Mahlow ist empört. Er befürchtet, dass dieser Tage wieder aus deutschem Politikermund und in Medien Lügen oder Halbwahrheiten verbreitet werden, etwa behauptet wird, dass ukrainische Soldaten die deutsche »Reichshauptstadt« im April/Mai 1945 stürmten und eroberten. Es ist ihm wichtig klarzustellen: »In der 1. Ukrainischen Front unter dem Befehl von Marschall Konew und der 1. Belorussischen Front unter dem Befehl von Marschall Shukow, die Berlin befreiten, kämpften Soldaten und Offiziere aus verschiedenen Nationalitäten der Sowjetunion: Kirgisen, Kasachen, Tadschiken … und nicht nur Ukrainer oder Belorussen. Die Frontbezeichnung bezog sich auf deren regionale Aufstellung. Der größte Teil der Armeeangehörigen waren Russen.« Der Veteran ergänzt: »Deshalb hat sich Stalin, gebürtiger Georgier, in einem Toast auf einem Empfang anlässlich des Sieges am 25. Mai 1945 auch ausdrücklich beim russischen Volk für dessen große Opfer zur Befreiung vom Faschismus bedankt.«
Ich traf Bruno Mahlow jüngst auf einem Empfang in der Russischen Botschaft in Berlin anlässlich des »Tages des Vaterlandsverteidigers« (früher: Tag der Sowjetarmee), als den man in Russland den 23. Februar offiziell begeht. Wir vereinbarten, dass er mir seine Geschichte als deutsches Emigrantenkind im Krieg erzählt. Einige Wochen später klingelt das Telefon. Der Veteran mahnt die säumige Redakteurin an das Versprechen.
»Als der Große Vaterländische Krieg begann, war ich mit meiner Schwester in einem Pionierlager in Rjasan, über 200 Kilometer südöstlich von Moskau entfernt«, erzählt Bruno Mahlow. Und fügt vorgreifend hinzu: »Als die Deutschen immer tiefer ins Land eindrangen, wurde die Industrie aus dem europäischen Teil Russlands hinter den Ural verlegt. Das ist eine Leistung, die viel zu wenig beschrieben und gewürdigt wird, weil sie nicht als heroisch galt - obwohl es heroisch war. Rjasan war ein Verkehrsknotenpunkt, über den die für die militärische und zivile Versorgung wichtige Industrie evakuiert wurde. Der Sieg wurde errungen unter großem Einsatz des Hinterlandes.«
Nach dem 22. Juni 1941 ist jedenfalls nichts mehr, wie es war. Der junge Bruno und seine ältere Schwester Hedwig müssen wie alle Kinder aus dem Pionierlager zu ihren Eltern zurückkehren. Unbeschwerter Sommerspaß ist von deutschen Aggressoren vereitelt worden. »Es war ein Problem, nach Moskau zu gelangen«, erinnert sich Bruno Mahlow. Nach der Nachricht vom heimtückischen Überfall der Hitlerwehrmacht und deren Verbündeter auf die UdSSR sind Hunderttausende Sowjetbürger unterwegs, aus dem wohlverdienten Urlaub zurück zum Arbeitsplatz, eingezogen oder freiwillig zum Dienst an der Waffe eilend, das »Vaterland« - im Russischen ein Mutterland, Matj Rodina - zu verteidigen. Die Züge sind überfüllt.
Lesen Sie mehr unter: 8.Mai - Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus
»Niemand hat sich damals vorstellen können, dass dieser verdammte Krieg vier lange Jahre währen würde«, sagt Bruno Mahlow. »Kaum einer ahnte, wie schnell und wie weit die deutsche Wehrmacht auf sowjetisches Territorium vordringen würde.« Erst später, als die Eindringlinge vor Moskau standen, bereit, die sowjetische Hauptstadt einzunehmen, wurde dies allen schmerzlich bewusst. Der Veteran erinnert sich, dass er mehrmals wegen Fliegeralarms mit seinen Eltern und der Schwester den Keller im Hotel »Lux« aufsuchen musste, wo auch Wilhelm Pieck, mit Brunos Vater gut bekannt, sowie weitere Funktionäre kommunistischer Parteien wohnten. Nach dem Krieg wird Bruno Mahlow junior erfahren, dass damals doch einige Bomben Moskau trafen. Und die Stadt vermint war. Dies offenbarte ihm Sascha Bogomolow, Mitarbeiter der DDR-Sektion im ZK der KPdSU, Breshnews Dolmetscher. Er berichtete Bruno Mahlow, der wiederholt für Erich Honecker dolmetschte, während eines Veteranentreffens im Moskauer Dynamo-Stadion, dass er im Krieg einer Einheit angehört habe, die Gebäude, Brücken, Tunnel und auch die Metro mit Sprengsätzen versehen hatte. Im Fall die Deutschen würden in Moskau einmarschieren. Eine lichterloh brennende Stadt wie 1812, als Imperator Napoleon in den Kreml einziehen wollte, blieb den Moskowitern diesmal zum Glück erspart.
Bevor die Hitlerwehrmacht die Wolokolamsker Chaussee am Stadtrand von Moskau erreicht, an der Rotarmisten im Oktober 1941 den Aggressoren einen verzweifelten Abwehrkampf liefern (von Alexander Bek in einen Roman verewigt), werden die Mahlows wie Zigtausende andere evakuiert. »Mein Vater war seit 1937 gelähmt, meine Mutter und vor allem meine Schwester mussten sich um die Propuske kümmern, die nötigen Ausweise und Papiere bei den verschiedenen Behörden einholen. Wir sind dann über die Wolga erst einmal nach Astrachan gekommen. Da waren wir bei einem Tataren untergebracht.«
Von Astrachan geht es für die Mahlows schließlich noch weiter gen Osten. Die nötigen Stempel für Plätze im Evakuierungszug werden ihnen nicht verwehrt. »Die verantwortlichen Offiziere erkannten, dass wir nicht zu jenen Deutschen gehörten, die Unglück und Leid über ihr Land gebracht haben, in Schuld und Verantwortung standen. Ein Hauptmann gab mir sogar mal seine Pistole in die Hand, weil ich sagte: ›Wenn ich groß bin, will ich Hitler erschießen.‹ Dafür hatte er volles Verständnis.« Der Krieg färbt natürlich auch auf die Spiele der Kinder ab. »Bei Kriegsspielen sollte ich den Feind, die Deutschen, spielen. Daraufhin brach ich in Tränen aus. Ich habe das strikt abgelehnt. Nach einigem Hin und Her durfte ich Partisan sein«, vermerkt der 83-Jährige stolz.
Die Mahlows gelangen nach Taschkent, Hauptstadt der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik, schon in der Antike ein reges Handelszentrum an der Seidenstraße, in das es Anfang der 1940er Jahre Völkerscharen verschlägt. »In Taschkent wurde ich Oktoberkind, Vorläufer der Pionierorganisation«, erzählt Bruno Mahlow. »Halstücher gab es nicht. Meine Mutter nähte mir ein dreieckiges Tuch aus dem roten Inlett eines Kopfkissens. Ich war stolz, als es mir feierlich umgelegt wurde. Nun war ich ein sowjetischer Junge deutscher Nationalität.« Sein Deutschsein hat Bruno Mahlow dank dem Vorbild der Eltern nie verschwiegen - nicht wie manche Emigranten im sowjetischen Exil, die dies aus Scham über die ungeheuren Verbrechen Deutschlands an den Völkern Europas und der Sowjetunion taten. »Ich bin sehr gut geimpft gegen jeglichen Nationalismus, weil ich als Internationalist aufgewachsen bin.«
Von früh an habe ihn die »menschliche Atmosphäre zwischen Vertretern verschiedener Nationalitäten« geprägt. Bruno Mahlow erinnert sich mit Dankbarkeit an die gegenseitige Unterstützung von Menschen, die sich alle in gleicher Notlage befanden. »Eine armenische Krankenschwester, Anja, hat die Krämpfe meines Vaters gelindert. Und ein kräftiger Ukrainer, Djadja Fedja, trug ihn bei Erdbeben die Treppe herunter in den Hof.« 1944, wird der siebenjährige Bruno eingeschult. »Kurz darauf bekam ich die Ruhr. Meine Klassenlehrerin, Lidja Wassiljewna, besuchte mich, erkundigte sich nach ihrem kranken deutschen Schüler.« Solche Aufmerksamkeit, Zeichen der Verbundenheit, sind ihm bis heute fest im Gedächtnis geblieben. »Mit meiner Klassenlehrerin stand ich Jahre nach dem Krieg noch im Briefkontakt. Da war sie inzwischen an die Wolga nach Togliatti übergesiedelt.« Die von Zarin Anna Anfang des 18. Jahrhunderts gegründete Stadt im Oblast Samara trägt noch heute den Namen des Generalsekretär der KP Italiens, im Gegensatz zu anderen Städten, die inzwischen auf ihre alten zaristischen Namen zurückgetauft worden sind. Auch mit den Ukrainern aus der Kommunalka trifft sich Bruno Mahlow später, als er mit einer DDR-Delegation in Taschkent einen Zwischenstopp hat. Da ist er inzwischen Mitglied des Zentralvorstandes der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF), die ihm Herzenssache im doppelten Sinne ist - gelebte und geliebte, hat er doch seine Ludmila geheiratet, die viele Jahre die AG ›Lieder und Tänze der Völker der Sowjetunion‹ an der Hans-Coppi-Oberschule in Berlin-Lichtenberg leitete. »Und drei meiner Töchter wirkten aktiv in dieser AG mit.« Sechs Millionen Mitglieder zählte die DSF. »Viel wichtiger war, dass und wie sich die Menschen engagierten«, sagt Bruno Mahlow.
An den 9. Mai 1945 - da war er acht - kann er sich nicht mehr genau erinnern: »Ich müsste schwindeln, wenn ich sagen würde, dass dieser Tag von Anfang an so begangen wurde, wie in späteren Jahren. Erst war es ein Tag des Gedenkens. Ein Tag der Freude, mit Tränen in den Augen.« Gut erinnern kann er sich hingegen an die Beisetzung des usbekischen Generals und Helden der Sowjetunion Samir Rachimow, dessen Namen die Schule trug, die er besuchte hatte. Ergriffen war der spätere Student am Institut für Internationale Beziehungen (IMO) in Moskau vom alljährlichen »festlichen, ehrerbietigen Gedenken an die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges am Denj Pobjedi.« Aam Tag des Sieges, den 9. Mai.
Kürzlich nahm die Staatsduma der Russischen Föderation ein Gesetz über das Gedenken an die Beendigung des Zweiten Weltkriegs am 3. September an. An diesem Tag kapitulierte 1945 Japan (nach Moskauer Zeit). Es wäre dies auch eine Chance hierzulande, den eurozentristischen Geschichtsblick auf den Fernen Osten zu weiten, ist Bruno Mahlow überzeugt. Ohne damit die Bedeutung des 8. Mai zu schmälern. Die Sowjetunion habe ihre im Rahmen der alliierten Koalition eingegangenen Verpflichtungen erfüllt »und zwei Monate nach dem Sieg in Europa noch einen entscheidenden Beitrag zur Zerschlagung der 6. Japanischen Kwantungarmee und zur Befreiung der Mandschurei geleistet«, unterstreicht der Veteran. Wichtig ist ihm ebenso die Richtigstellung: »Gewöhnlich wird der Beginn des Zweiten Weltkriegs auf den 1. September 1939 mit dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen datiert. Die Vorgeschichte, wie das Münchener Abkommen 1938 und die Geschehnisse im Fernen Osten, die am 7. Juli 1937 begonnene Invasion Japans in China, werden dabei außer Acht gelassen. Ab Mai 1939 tobten blutige Kämpfe am Chalchin Gol.« Bruno Mahlow zitiert ein in Russland geläufiges Wort: »Nikto ne sabyt, nischto ne sabyto.« Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen.
Sodann sinniert der Veteran über das Phänomen, welche Bewunderung der britische Kriegspremier Winston Churchill, ein strammer Antikommunist, damals für Stalin hegte, ihn gar in seiner sechsbändigen, mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Geschichte des Zweiten Weltkrieges würdigte. Bruno Mahlow kritisiert, dass nicht nur hierzulande die Konferenz von Jalta der »Großen Drei« - Stalin, Churchill und Roosevelt - im Februar 1945 nicht die gebührende Aufmerksamkeit finde. Auf ihr waren die Grundlagen für die Weltnachkriegsordnung fixiert worden. »Polen erhielt zwei Drittel des Territoriums Ostpreußens. Doch die heutige politische Elite Polens bedient sich besonders schamlos der Geschichtsfälschung.« Jalta würde bezeugen, so der ehemalige Diplomat, dass in politischen Positionen und Interessen konträre sowie geografisch weit voneinander entfernte Staaten respektive Regierung mit Realpolitik zu tragbaren Ergebnissen gelangen könnten. »Es gilt Prioritäten zu setzen. Eine Reihe von Politikern und Staatenlenkern heute haben in diesem Sinne Nachhilfeunterricht bitter nötig.«
Dass der Jahrhundertzeuge mit der Zeit geht, in der Gegenwart lebt, offenbart sein Bedürfnis, sich auch zur Corona-Krise äußern zu wollen. »Eine solche Pandemie gab es noch nie. Sie kann jeden treffen. Sie macht die Existenz der Menschheit zu einer Schicksalsfrage. Zumal sie mit einer umfassenden Krise des Kapitalismus zusammenfällt.« Eine Krise von biologischen, psychologischen, sozialen, gesellschaftlichen und geopolitische Ausmaßen, so Bruno Mahlow. »Es geht um die Qualität und die Werte des menschlichen Lebens. Und damit stellt sich mit aller Schärfe wieder die Systemfrage. Welche gesellschaftlichen Verhältnisse können den neuen Herausforderungen im Interesse der Menschen gerecht werden?«
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