- Politik
- Hygiene-Demonstrationen
Vollzug mit Defiziten
Die Polizei schreitet bei vielen sogenannten Hygiene-Demonstrationen nicht ein. Dafür erntet sie Kritik
Auf vielen Bildern sogenannter Hygiene-Demonstrationen ist das Gleiche zu sehen: Menschen dicht gedrängt, obwohl sich alle ernstzunehmenden Wissenschaftler einig sind, dass das Coronavirus sehr leicht über die Atemluft von Mensch zu Mensch übertragen wird. Viele Demonstranten tragen trotzdem nicht mal einen Mundschutz - so wie der Thüringer FDP-Fraktionschef Thomas Kemmerich, der am Samstag in Gera an einem »Spaziergang« gegen Corona-bedingte Auflagen teilgenommen hat. Nach Polizeiangaben waren dabei etwa 600 Menschen auf der Straße. Nach den geltenden Auflagen hätten es maximal 50 sein dürfen.
Kemmerich hat sich dafür entschuldigt, dass er gegen die Hygieneauflagen verstoßen hat. Zudem räumte er ein, den Protest von Rechtspopulisten, Verschwörungstheoretiker und Impfgegner mit seiner Anwesenheit aufgewertet zu haben. Grundsätzlich verteidigte er seine Teilnahme an der Demo aber am Montagnachmittag erneut. Er sei dabei gewesen, weil er nicht wolle, »dass Teile der Mittelschicht mit ihren Sorgen von der AfD vereinnahmt werden«, schrieb er im Kurzbotschaftendienst Twitter.
Doch falls Kemmerich symptomfreier Träger des Virus Sars-CoV-2 wäre, hätte er zahlreiche Menschen angesteckt. Wobei die Missachtung der Hygieneregeln aus Sicht der Protestierenden nur konsequent ist: Sie halten Covid-19 für eine völlig überschätze Krankheit und glauben, mit den verhängten Einschränkungen wollten »die da oben« das einfache Volk knechten.
Die Polizei schreitet bei solchen Versammlungen trotz aller Verstöße gegen Hygieneregeln und Auflagen bislang bundesweit oft nicht ein. Als Kemmerich wenige Zentimeter neben anderen Protestierenden durch Gera ging, liefen zwei Polizisten mit Warnwesten, aber ohne Mundschutz fünf Meter hinter ihm her, inmitten eines Heers von Menschen, und taten nichts.
Die Thüringer SPD-Innenpolitikerin Dorothea Marx bescheinigte der thüringischen wie auch der deutschen Polizei allgemein wegen solchen Verhaltens ein »Vollzugsdefizit«. Sie verkenne nicht, welche Schwierigkeiten es für einen Polizeiführer bedeute, entscheiden zu müssen, ob man gegen Auflagenverstöße durchgreifen oder diese ignorieren solle, sagt Marx. Zugleich betont sie: »Es ist wie eine Seuche: Wenn ich das einem durchgehen lasse, macht es keiner mehr.« Dabei sei jeder Verstoß potenziell hochgefährlich.
Thüringens Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke) forderte ein konsequenteres Vorgehen gegen Personen, die gegen Auflagen verstoßen. Zudem hält sie es für angemessen, Teilnehmende solcher Proteste zu sanktionieren, wenn sie sich nachweisbar nicht an Hygienevorschriften gehalten hätten. Sie habe Schwierigkeiten, die Motivation der Demonstrierenden nachvollziehen, sagte Werner - ebenso wie das Argument etwa von Kemmerich, die Sorgen, die Menschen bei diesen Protesten äußerten, müssten ernst genommen werden. Es gebe ausreichend Informationen über das neuartige Coronavirus und Covid-19.
Auf die Frage, ob die Landespolizei künftig entschiedener durchgreifen werde, wenn es bei Protesten zu Verstößen gegen Auflagen und Hygieneregeln kommt, sagte eine Sprecherin des Thüringer Innenministeriums im Kern: Kommt auf den Einzelfall an. Gleichzeitig rechtfertigte die Sprecherin, dass die Polizei nach dem Geraer »Spaziergang« trotz der Verstöße gegen die vorab verkündeten Auflagen und das Infektionsschutzgesetz die Versammlung als »störungsfrei« bewertet hatte.
Dorothea Marx fordert derweil, gegenüber Personen, die nachweislich gegen Auflagen verstoßen haben, die vorhandenen Möglichkeiten des Strafrechts etwa im Fall der Erkrankung von Personen aus deren Umfeld auszuschöpfen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.