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Streit um den Kitakuchen

Schritt für Schritt erweitern Kindertagesstätten ihren Notbetrieb / Vielfach sind sie sich dabei selbst überlassen

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 7 Min.

Geduld ist derzeit vielerorts nötig - bisweilen sogar vor den Kitas. Statt wie gewohnt hineinzugehen, geben Eltern ihre Kinder morgens an der Tür ab. Erst wenn die Erzieher*innen einem Kind Jacke und Schuhe ausgezogen und mit ihm Hände gewaschen haben, dürfe das nächste Kind hinein, erzählt Nadja Rau. Sie ist Erzieherin einer Elterninitiativ-Kita in Prenzlauer Berg in Berlin.

Die Coronakrise wirbelt den Alltag vieler Menschen durcheinander. Auch in Kitas ist das spürbar - obwohl Erzieher*innen sich bemühen, in der Notbetreuung trotz eigener Ängste so etwas wie Routine herzustellen. »Wir versuchen, den Kindern ein Maximalmaß an Normalität zu vermitteln«, sagt Nadja Rau. Sie berichtet aus dieser neuen Normalität, in der alle ständig Hände waschen und Erzieher*innen Mundschutz tragen - oder es zumindest versuchen. Denn mit Maske vorzulesen oder Spiele anzuleiten, sei schwer. Die Kommunikation mit den Kindern falle schwerer, die Konzentration leide, der pädagogische Anspruch sinke. Die Älteren kämen mit den maskierten Erzieher*innen ganz gut klar, sagt Rau. Bei einem Zweieinhalbjährigen hingegen war spürbar, dass er das nur am Anfang spaßig fand. »Dann hatte er keine Lust mehr und wurde quengelig.« Die Veränderungen im Kitaalltag seien anstrengend, sagt die Erzieherin. »Das ist gerade für die Kinder unter drei eine riesige Herausforderung.«

Nicht nur die Kinder sind gefordert, auch Eltern, Erzieher*innen, Kitaträger und Politik. Nach der Schließung birgt auch die Wiederöffnung enormes Konfliktpotenzial. Wie weit und in welchen Schritten die Ausweitung des Betriebs organisiert wird, ist von Bundesland zu Bundesland verschieden. Brandenburgs Bildungsministerin Britta Ernst kündigte beispielsweise am Dienstag an, dass alle Kinder, die bisher nicht an der am 18. März gestarteten Notfallbetreuung in den Kindertagesstätten teilnehmen konnten, ab Ende Mai zumindest einmal wöchentlich in die Kitas gehen können. In Berlin hatte der Regierende Bürgermeister Michael Müller am Donnerstagmorgen im rbb-Inforadio verkündet, dass von aktuell 40 Prozent schrittweise auf 70 Prozent des Normalbetriebes hochgefahren werden solle. Eine Woche danach dürfen nun auch die Vorschulkinder und ihre Geschwister wieder in die Kita. Bisher galt das nur für Kinder von Eltern in systemrelevanten Berufen und Alleinerziehende.

Wie die Aufstockung geschehen sollte, war über das verlängerte Wochenende noch nicht klar. Ein detailliertes Informationsschreiben für die Träger wurde für Montag angekündigt. Bis dahin wussten sie von dem Vorhaben nur aus den Medien, berichtet Babette Sperle, Sprecherin des Dachverbandes Berliner Kinder- und Schülerläden (DaKS), der etwa 800 kleine Kitas in Berlin vertritt. Sie kritisiert, dass nicht gleichzeitig mit der Ankündigung auch detaillierte Informationen herausgegeben wurden. Denn natürlich machten sich die Kita-Leitungen übers Wochenende Gedanken - und auch die Eltern wollten wissen, woran sie sind.

Die Devise lautet, dass Kitas stabile Kleingruppen bilden sollen, um das Infektionsrisiko zu minimieren. Viele Kitas stelle das vor große Herausforderungen, wenn nun auf einen Schlag mehr Kinder dazukommen, sagt Sperle. In einigen Einrichtung hätten bisher nur wenige Kinder Anspruch auf Notbetreuung, andere seien jetzt schon zu 80 Prozent ausgelastet.

»Richtig schwierig ist es mit dem Thema Risikogruppen«, sagt Sperle mit Blick auf das Personal in den Betreuungseinrichtungen. Der Verband gehe davon aus, dass 30 Prozent der Fachkräfte in diese Kategorie fallen und nicht eingesetzt werden können. Viele ältere Erzieher*innen befänden sich deshalb in einem moralischen Dilemma, sagt die Verbandssprecherin, die sich zu dem Thema klare Vorgaben wünscht.

Auch an ihre räumlichen Kapazitätsgrenzen können Kitas schnell stoßen, wenn sie die Gruppen teilen. In Berlin seien beispielsweise Hunderte Einrichtungen in ehemaligen Wohnungen untergebracht, sagt Bruno Capra, der als Erzieher in einer Kita in Berlin-Neukölln arbeitet und den Notbetrieb organisiert.

»Der Kitakuchen hat schon vor Corona nicht für alle ausgereicht«, sagt Capra. Das bedeute, dass die einzelnen Stücke kleiner werden müssen. Das sieht auch der Senat so. »Aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen kann es noch nicht wieder für alle eine Ganztagsbetreuung geben«, teilte Bildungssenatorin Sandra Scheeres letzte Woche mit.

Übers Wochenende erreichten Capra viele Anrufe von Eltern, die wissen wollten, wie es weitergeht. Ihm blieb nichts übrig, als sie zu vertrösten. Konflikte zwischen Eltern, Kitas und Träger seien programmiert. »Das birgt einen hohen sozialen Sprengstoff«, betont Babette Sperle.

Einerseits sind da die Erzieher*innen, die sich einem erhöhten Infektionsrisiko aussetzen. »Sie gehören zu einer Berufsgruppe, die generell eine hohe Opferbereitschaft hat«, betont Sperle. Trotzdem sei es in der aktuellen Situation schwer. Bei der Arbeit wickeln sie Kinder, putzen Nasen und Füttern - während sie privat aufpassen müssen.

Gleichzeitig wünschen sich viele Eltern, die seit Wochen kaum schlafen, dringend Entlastung. »Einige drehen am Rad, weil sie das Kind bei jeder Videokonferenz auf dem Schoß haben«, sagt Sperle. Wie der WDR berichtet, haben am Wochenende Eltern in verschiedenen Städten Nordrhein-Westfalens demonstriert und eine schnellere Öffnung von Kitas und Schulen gefordert.

Wie viele Eltern haben sich auch Almut Bickhardt und ihr Partner anfangs mit Arbeit und Kinderbetreuung abgewechselt. »Dann war klar, dass wir beide am Limit sind«, erzählt die Leipzigerin, die als Hebamme Anspruch auf Notbetreuung ihrer dreijährigen Zwillinge hat. Irgendwann habe sie trotz Bedenken beschlossen, ihre Kinder wieder stundenweise in die Kita zu geben. »Ich nehme schon wahr, dass sich viele Eltern sehr bemühen. In den ersten Wochen haben auch Leute, die Anspruch auf Notbetreuung hatten, versucht, es alleine zu schaffen«, berichtet sie. Aus Pflichtgefühl gegenüber den Menschen, die sie betreut, habe sie Angst vor einer Ansteckung gehabt. »Wenn ich in Quarantäne gehe, könnte ich nicht mehr für die Frauen da sein, die ich über eine längere Zeit betreue und gut kenne«, sagt sie.

Trotzdem sei die Entscheidung, die Notbetreuung in Anspruch zu nehmen, richtig - für sie selbst und auch für die Kinder. »Dass es ihnen so gut geht, liegt definitiv auch daran, dass sie wieder in die Kita gehen«, sagt Almut Bickhardt. Sie selbst sei nun wieder geduldiger und entspannter mit den beiden.

Zum Glück habe ihr Kindergarten ihren Anspruch auf Notbetreuung nicht in Frage gestellt. Viele ihrer Freund*innen und Kolleg*innen hätten erst Kämpfe ausfechten müssen - auch eine Hebammen-Kollegin. Ein Problem sei, dass es keine Lösung für die älteren Kinder von Schwangeren und Frauen im Wochenbett gebe. »Du kannst nicht vier Wochen nach einer schwierigen Geburt ein dreijähriges Kind und ein Baby jonglieren«, betont Almut Bickhardt. Sie sähe aber auch, dass nicht alle Kinder in die Notbetreuung können, wenn die Kapazitäten fehlen.

Teilweise waren die Kinder seit Wochen nicht in der Kita, wenn sie nun zurückkommen. Man könne nach so einer langen Zeit durchaus von einer neuen Eingewöhnung sprechen, sagt Jan Potyka, der in einem Berliner Waldkindergarten arbeitet. Beziehungen müssen wieder aufgebaut werden, sagt er. Bisher wurde nur für wenige Kinder Anspruch auf Notbetreuung angemeldet. Auch stellt sich im Wald die Platzfrage nicht. Der Alltag gestalte sich ähnlich wie vor Coronazeiten, sagt der Erzieher. Zwar könne probiert werden, beispielsweise bei den Mahlzeiten Abstand zu halten - aber im Freispiel sei es damit wieder vorbei. »Wenn die Kinder wieder betreut werden, muss klar sein, dass sie die Nähe selbst wählen - nach emotionalen Gesichtspunkten und nicht nach Corona-Erwägungen.« Nach Stürzen oder beim Toilettengang, bei dem die Jüngeren Unterstützung brauchen, sei der Kontakt auch zu den Erzieher*innen nicht zu vermeiden.

Trotz aller Schwierigkeiten sei es sehr wichtig, dass gerade die älteren Kinder noch mal in die Kita gehen können, bevor sie in die Schule kommen. »Das wäre sonst ein Bruch, den man nicht mehr kompensieren könnte«, sagt Potyka.

Am Montagabend schickte der Senat schließlich die ersehnten Informationen. Damit hätten die Einrichtungen ein tragfähiges Konzept stricken können, sagt Babette Sperle. Der Betreuungsanspruch sollte demnach auf vier Stunden pro Tag begrenzt werden. Für individuelle Ausnahmen sollte eine Liste mit bestimmten systemrelevanten Berufen folgen.

Was dann am Dienstagnachmittag in die E-Mail-Postfächer flatterte, habe die in der Zwischenzeit erdachten Konzepte dann wieder über den Haufen geworfen, berichtet Sperle. Statt der erhofften abgespeckten Aufzählung lieferte der Senat eine lange Liste systemrelevanter Berufe. »Das stellt uns vor ganz große Umsetzungsprobleme.« Viele Kitas würden mit dem für heute angekündigten Öffnungsschritt bereits an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Eine Befürchtung des DaKS sei, dass die daraus folgenden Probleme zwischen Kitamitarbeiter*innen und Eltern ausgetragen werden. Diese persönlichen Konflikte bezeichnet Capra als Katastrophe. »Besonders für die Kinder.«

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