Nach Perlen tauchen

Hannah Arendt nutzte »Denkbruchstücke« anderer Theoretiker, um ihre Gegenwart zu verstehen. Ihr Nachdenken über das 20. Jahrhunderts ist auch ein Vordenken für unsere Zeit

  • Mascha Malburg
  • Lesedauer: 6 Min.

»Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nachdenken. Nicht?« Hannah Arendt zieht an ihrer Zigarette. »Ich lebe in der modernen Welt, und selbstverständlich habe ich in der modernen Welt meine Erfahrungen.« Es ist 1964, die jüdische Theoretikerin, die es gerade mit einem Buch über die Banalität eines NS-Verbrechers zu weltweiter Bekanntheit gebracht hat, spricht im deutschen Fernsehen. Ihr gegenüber sitzt ein junger Günter Gaus, stets bemüht, der Intellektuellen Fragen auf ihrem Niveau zu stellen. Diesmal lautete die Frage: Beruht Ihre Theorie, Ihr Denken auf Ihren persönlichen Erfahrungen? Und Arendt sagt: »Ja.« Das allein regt an, sich vertieft mit ebendiesen Erfahrungen zu beschäftigen, ihrem Leben nachzugehen und zu verstehen, wie ihr Denken mit der »modernen Welt«, wie sie sagt, zusammenhing.

Der Piper-Verlag hat diesem Verhältnis nun einen ganzen Sammelband gewidmet. »Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert« erzählt begleitend zur neuen Ausstellung im Deutschen Historischen Museum von der politischen Theoretikerin, der Intellektuellen Arendt, und der privaten Hannah in den Umbrüchen ihres Jahrhunderts. Die Essays und Bildsammlungen sind in sieben Kapitel gegliedert: Jüdisches Selbstverständnis, Totale Herrschaft, Nachkriegszeit, Die Vereinigten Staaten, Juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, Protestbewegungen, Politisches Denken. Das sind die großen Themen des 20. Jahrhunderts, die Arendt mit ihrer ganz eigenen Theorie zu ergründen versuchte. Es sind gleichzeitig die historischen Schwerpunkte, zu denen sie öffentlich Stellung bezog. Aber es sind eben auch die unmittelbaren Erfahrungen ihres Lebens, die ihr Denken leiteten.

Von persönlicher Erfahrung ...

Arendt wird 1906 als Tochter einer säkularen jüdischen Mutter in Hannover geboren. Als die Nachbarskinder sie eine Jüdin schimpfen, antwortet die kleine Hannah: »Ja also, so ist es.« Dieses Selbstverständnis prägt ihre Jugend. Erst mit den äußeren Umständen entwickelt sich für die Philosophiestudentin, die sich mit Hingabe in die griechische Antike vertieft, diese Tatsache zu einem Gegenstand, der einer theoretischen Auseinandersetzung bedarf: Umgeben vom Antisemitismus der späten Weimarer Jahre beschäftigt sich Arendt in ihrer Habilitation mit der jüdischen Schriftstellerin Rahel Varnhagen, die in den Kreis der deutschen Salongesellschaft aufstieg und doch immer dazu verdammt blieb, ihr fremd zu sein.

Mit der Gleichschaltung wird für Arendt die Theorie zum persönlichen Schicksal: Die intellektuellen deutschen Freunde wenden sich ab, ihr Lehrer und Geliebter Martin Heidegger spricht mit Enthusiasmus von und für die Nazis. 1933 ist ihr, so erinnert sie sich noch Jahrzehnte später, als ob »sich ein leerer Raum um einen bildet«.

Die Machtergreifung der Nazis ist eine der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, aus denen Arendt ihre eigenen Konsequenzen zieht: »Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen.« Mit diesem Credo kehrt Arendt deutschen Gelehrtenkreisen den Rücken und wird im Untergrund für mehrere zionistische Organisationen aktiv. Später emigriert sie nach Frankreich, wo sie Hunderten Kindern zur Ausreise nach Palästina verhilft. Erst nach ihrer eigenen Flucht nach New York stürzt sie sich wieder in die Theorie.

1951 erscheint ihr erstes großes Werk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«: Auf beinahe 1000 Seiten rekonstruiert sie die Entwicklung des Antisemitismus vom 18. Jahrhundert bis zu den totalitären Diktaturen ihrer Zeit. Der Publizist Micha Brumlik, sieht darin die »höchst radikale Form jüdischer Selbstvergewisserung in der Moderne«; gleichzeitig präsentiert Arendt nur sechs Jahre nach der Befreiung von Auschwitz ihren individuellen politiktheoretischen Zugang zu dem, »womit wir alle nicht mehr fertig werden«.

... über das politische Denken...

Arendts Ansatz zeugt von einem unaufhörlichen Nachdenken über die persönlichen Erfahrungen und einer scharfen Beobachtung ihrer Welt, aber auch von dem Mut, diese dann assoziativ mit traditionellen Gedankensträngen zu verknüpfen. »Perlentauchen« nennt sie das, in Anlehnung an ihren Freund Walter Benjamin. Die Philosophie Kants ist so eine Perle, die Idee der Macht bei Montesquieu oder Rilkes Dichtung. Arendt sammelt sie am Meeresgrund der Denktraditionen zusammen, bricht sie aus ihren überkommenen Muscheln. Mit diesen »Denkbruchstücken« im Gepäck lässt sich die Gegenwart an der Oberfläche erhellen, verstehen, beurteilen.

Drehte sich die Welt weiter, folgte ein erneuter Tauchgang, ein neues Urteil. Krieg in Vietnam, Aufstand in Ungarn, Eichmann in Jerusalem: Arendt beurteilte ihre Zeit nicht selten entgegen dem Zeitgeist, sie provozierte in nüchternem bis zynischem Ton, diskutierte in Zeitschriften, auf Konferenzen und im Radio mit denen, die ihr widersprachen. Nicht jeder verstand diese Lust an der öffentlichen Debatte, die für Arendt strikt getrennt vom Privaten verlaufen musste. Dem Freund Gershom Scholem, der ihr nach ihrer Kritik am modernen Zionismus einen gekränkten Brief aus Jerusalem schreibt, antwortet sie, ihr seien Menschen wichtiger als ihre Meinungen, und er solle sie bald besuchen kommen. Liebe und auch Freundschaft waren für Arendt zwei der wenigen Dinge, die vor dem »Weltbezug« geschützt werden mussten.

Alles Weltliche aber durfte - und sollte - analysiert, beurteilt und öffentlich debattiert werden. Arendt lebte die politische Freiheit, wie sie im 20. Jahrhundert schon beinah vergessen war: Die Freiheit jedes Bürgers, sich öffentlich über die großen politischen Fragen auszutauschen, sich mit einem neuen Gedanken und der eigenen Meinung einzubringen, sich von den anderen in der Debatte zu unterscheiden - und ihnen trotzdem gleichgestellt zu bleiben, außerhalb jeglicher privater Kategorien.

... zu gelebter Freiheit

Es ist die öffentliche Freiheit, die Arendt in der antiken Polis, in den frühen amerikanischen Bürgerversammlungen und in der Pariser Kommune entdeckte, der sie ihre letzten großen Werke widmete und die sie in ihrer Zeit kopfschüttelnd verkümmern sah. Denn die modernen Nationalstaaten stützen sich nicht auf einen Konsens in der pluralistischen Debatte ihrer Bürger, sie erfinden einen homogenen Volkswillen, den der Berufspolitiker mithilfe der Statistik ermittelt und mit bürokratischen Mitteln erfüllt. Es gilt, jedem Bürger sein privates Leben so angenehm wie möglich zu gestalten und ihn von der Last der (viel zu komplexen!) politischen Entscheidungsfindung zu befreien: Nur alle paar Jahre traut man ihm eine eigene Stimme zu - ein Kreuzchen auf dem Wahlzettel genügt.

So ermüdet das selbstständige Denken, der öffentliche Raum zerfällt, das private Glück ersetzt die politische Freiheit. Arendt kritisierte dieses Phänomen in der Theorie, und wandte sich ihm in der Praxis entgegen. Sie hatte erlebt, wohin es führt, wenn Menschen aufhören, sich einzumischen.

Der neue Sammelband kommt Arendt in diesem Ringen mit ihrem Jahrhundert ungewohnt nah. Das wirkt an manchen Stellen inszeniert intim, etwa wenn Fotografien eines Strandausflugs vor einem Kapitel über den Eichmann-Prozess platziert werden. Arendt, die stets auf die Trennung des Privaten vom Öffentlichen pochte, hätte dies sicher zu einem ihrer zynischen Kommentare veranlasst. Aber genau das schafft dieses Buch: Ihre spitze Zunge bleibt einem im Kopf, ihre klugen Gedanken werden zu Denkbruchstücken für das eigene Urteil. Arendts Nachdenken ist immer auch ein Vordenken für unsere Zeit. Und manchmal ist einem beim Lesen, als würde Hannah einen ganz persönlich dazu auffordern, sich mit seinem eigenen Jahrhundert anzulegen.

»Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert«, Deutsches Historisches Museum, Berlin, täglich 10 bis 18 Uhr, Eintritt 8 €, erm. 4 €, bis 18 Jahre frei. Doris Blume/Monika Boll/Raphael Gross (Hg.): Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert. Piper, 286 S., geb., 22 €.

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