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Die große Verschwörung
Die Coronakrise erschüttert Sicherheiten und Gewissheiten - und das Verhältnis mancher Leser zum »nd«
»Welches Interesse haben Sie, Bill-Gates-freundlich zu berichten?« Diese Frage aus einem Leserbrief an die nd-Redaktion bringt auf den Punkt, was in der Coronakrise nicht wenige Menschen beunruhigt oder auch empört: Hört und liest man nicht in vielen Medien das Gleiche (in einer Mail heißt es sogar: »wortwörtlich das Gleiche, egal bei welchem Thema«); sind die nicht alle gesteuert, werden nicht wichtige Informationen vorenthalten? Und steckt hinter der Pandemie und den einschneidenden Vorsichtsmaßnahmen nicht etwas ganz anderes, viel Größeres, das niemand auszusprechen wagt?
Die Corona-Pandemie hat in kurzer Zeit die Gesellschaft in vielen Ländern radikal verändert. Das verursacht Existenzfragen, Konflikte und Ängste, ganz zweifellos. Wer in solchen Situationen Verantwortung trägt und Entscheidungen treffen muss, kann in den Augen der erregten Öffentlichkeit, der Betroffenen sehr vieles falsch machen.
Regierung und Medien, heißt es in Leserbriefen, hätten die Bevölkerung wochenlang mit Bildern von überfüllten Krankenhäusern, Leichenkolonnen und Massengräbern aus Italien und Spanien in Angst versetzt, um dann leichtes Spiel mit den Grundrechtseinschränkungen zu haben. »Wenn in Deutschland jemand stirbt, dann an der Angst, die verbreitet wird«, sagte in einer Fernsehreportage ein Protestteilnehmer.
»Wer finanziert diese Medien?«
So kann man das natürlich sehen. Aber mal abgesehen von dem mitschwingenden Vorwurf, dahinter stecke ein gemeinsames abgekartetes Spiel von Politik und Medien: Wären diese Bilder nicht gezeigt worden, hätten sich dann nicht die gleichen Leute über Zensur beschwert? Und hätten wir in Deutschland heute Zehntausende Coronatote - würden dann nicht die gleichen Leute deshalb protestieren?
Weil in Deutschland der Alltag fast jedes Einzelnen von den Restriktionen betroffen ist, gibt es ein riesiges Interesse an einer Debatte darüber. Doch während anfangs viele noch interessiert den Virologen lauschten, den neuen Stars der Informationsgesellschaft, verändert sich die Stimmung, je länger die Einschränkungen andauern. Die Diskussion, die natürlich geführt werden muss, erreicht uns in vielen Briefen und Mails. In diese Meinungsäußerungen mischen sich in wachsendem Maße nicht nur Sorge und Unsicherheit, sondern auch Enttäuschung, Misstrauen, Verbitterung und teils aggressive Ablehnung.
Ein Leser schrieb, er informiere sich vor allem auf »alternativen Informationskanälen«. Er nannte vier Professoren und Doktoren, deren Youtube-Statements er schätze und die im »nd« leider nicht zitiert würden. Es kostete ein paar Sekunden, um im Netz herauszufinden, wer diese vermeintlichen Experten sind: ein Epidemiologe, dessen Berufsleben weit vor Covid-19 lag; ein Rechtsmediziner; ein Finanzwissenschaftler; ein HNO-Arzt, der zwar derzeit nicht glaubt, »dass etwas hinter der Corona-Epidemie steckt, aber wenn alles vorbei ist, würde mich interessieren, ob nicht doch etwas dahintergesteckt hat«.
Sind das die Fachleute, denen man vertrauen möchte? Oder sollte man sich nicht lieber an ausgewiesene Virologie-Spezialisten halten? Jeder mag sich anhören, was er will; viele klauben sich von den Fachleuten ihrer Wahl ein paar Informations- und Behauptungsschnipsel zusammen, die in ihr Weltbild passen. Hauptsache, das Ergebnis liegt außerhalb dessen, was oft verächtlich als Mainstream bezeichnet wird. »Erstmals mehr Corona-Experten als -Infizierte«, bespöttelte neulich jemand auf Twitter diesen Zustand.
Mainstream - das ist so ziemlich die schärfste Kritik, die in Leserbriefen formuliert wird. »Kein Unterschied mehr zu ›FAZ‹ oder ›Stern‹«, schrieb uns ein Leser. »Hören Sie auf, ARD und ZDF abzuschreiben«, forderte ein anderer und fügte hinzu: »ARD, ZDF, ›Spiegel‹, ›Bild‹, ›Die Zeit‹, ›FAZ‹, ›Süddeutsche Zeitung‹, ›Taz‹, ›Junge Welt‹, ›neues deutschland‹ usw. - alles eine Soße. Wer finanziert diese Medien?«
Was unsere Zeitung betrifft, ist diese Frage einfach zu beantworten: die Leserinnen und Leser. Was die Frage generell betrifft, werden Antworten im Internet souffliert. Derzeit ganz oben auf der Liste der Bösewichte: Bill Gates, der mit dem Microsoft-Konzern ein gigantisches Vermögen gemacht hat und sich auf seine alten Tage als Gönner inszeniert. Unter anderem für die Weltgesundheitsorganisation WHO.
»Oft geschummelte Zahlen«
Man kann über Gates, sein Vermögen und die Strategie und Interessen der weltweit agierenden Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung informieren. Darüber, wie diese Stiftung gezielte Großherzigkeit mit Geschäftssinn verbindet. Darüber, dass sich solchen Privatinstitutionen Räume eröffnen, weil Staaten sich aus der Verantwortung zurückziehen. Das hat unsere Zeitung getan. Man kann freilich auch prägnant und falsch behaupten: Die WHO, das Robert-Koch-Institut (das, wie eine Leserin schrieb, »oft geschummelte Zahlen« verbreite), die Bundesregierung, diverse Medien - sie sind alle gekauft von Bill Gates.
Einer, der solche Dinge verbreitet, ist Ken Jebsen. Er betreibt ein ausgesprochen erfolgreiches Medienprojekt namens KenFM. Die Krankheit Covid-19 nennt er Covid-1984, eine Anspielung auf die Überwachungsstaat-Dystopie »1984« von George Orwell. Andere dichten Gates ganz in diesem Sinne an, allen Menschen auf der Erde einen Chip einpflanzen oder die Menschheit dezimieren zu wollen. Gerissene Unternehmer erfänden Seuchen wie die Schweinegrippe und Covid-19, um damit Geschäfte zu machen.
Solche Abstrusitäten und brachialen Vereinfachungen finden in Zeiten der Unsicherheit dankbare Abnehmer und strahlen aus. Ken Jebsen, eine Autorität für viele der empörten Demonstranten und Briefeschreiber, ist weniger der aufrechte Journalist, für den ihn auch einige nd-Leser halten. Vielmehr ist er ein dauerlärmender Missionar in eigener Sache, ein Internet-Geschäftsmann, der in seinen Anschuldigungskaskaden Fakten mit Behauptungen und zurechtgebogenen Interpretationen mischt und sich in der Pose des Mutigen gefällt - obwohl er und seinesgleichen unbehelligt äußern können, was sie wollen.
Blogger, Youtuber und andere sind eine Herausforderung für die klassischen Medien. Diese müssen genauer hinschauen, gründlicher recherchieren. Es ist eine technische wie demokratische Errungenschaft, dass heute faktisch jeder, der es will, sein eigenes Medium betreiben kann.
Aber: Nur weil jemand sich einen Videokanal bastelt, hat er nicht automatisch recht. Er muss sich denselben Ansprüchen und Qualitätskriterien stellen, die er an andere richtet. Da gibt es neben glänzenden Beispielen auch viele problematische, erschreckende Fälle, in denen die Grenzen zwischen dem tatsächlich Kritik- und Diskussionswürdigen an der Anti-Corona-Strategie und wilden Fantasiegebilden bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Wer so etwas verbreitet, hat oft leichtes Spiel: Viele Menschen, die von den herkömmlichen Medien nichts mehr halten, entwickeln eine regelrechte Gläubigkeit für ihre Internet-Gurus.
Deren Stichworte tauchen in Leserbriefen, auf Plakaten, in Sprechchören auf Demonstrationen auf. Dann fallen Begriffe wie Corona-Hysterie, Corona-Diktatur, Klimahysterie, Terrorregime, Systemjournalismus - eine Sprache, die dem Vokabular von rechts außen oft befremdlich nahekommt. Gegen den Vorwurf allerdings, die neuen Anti-Corona-Demos würden zunehmend von rechts vereinnahmt, wehren sich Teilnehmer und Sympathisanten solcher Proteste vehement.
In diesem Zusammenhang schreiben uns immer wieder Leser, wir würden alle Demonstranten in die rechte Ecke stellen. Das ist ein schönes Beispiel dafür, dass in Zeiten großer Erregung nur noch das Extrem wahrgenommen wird. Wir schreiben nicht, dass alle Demo-Teilnehmer Nazis sind; wohl aber berichten wir darüber, dass diese Proteste zunehmend von Rechten, Esoterikern, radikalen Impfgegnern und anderen besucht und benutzt werden - oft unter demonstrativer Missachtung des Abstandsgebots.
Merkwürdigerweise macht es diese - sagen wir - Kritiker nicht stutzig, dass weltweit so gut wie alle Staaten, die mit Corona zu tun bekommen, die gleichen Maßnahmen ergreifen: Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Kontaktsperren, Abstandsgebote, Maskenpflicht usw. Alle Staaten tun das, so unterschiedlich sie auch sind - China und die USA, Russland und Großbritannien, die Türkei und Australien. Die eine Regierung reagiert früher und hält den Schaden in Grenzen; die andere macht sich eine Weile über den Rest der Welt lustig (beispielsweise Trump in den USA), um dann scharf einzugreifen und dennoch einen hohen Preis zu zahlen. Sind die am Ende alle eingekauft, ferngesteuert und gleichgeschaltet? Oder folgen sie nicht doch unausweichlichen Notwendigkeiten?
»Corona unterm Hakenkreuz«
Und ist es linkes Herangehen, eine Pandemie kleinzureden, die schon Hunderttausende Todesopfer gefordert hat? Oder sollten Linke nicht vielmehr über Mängel im Gesundheitssystem sprechen, über Defizite in der Pflege, über gerechtere Sozialpolitik in Krisen- und Nichtkrisenzeiten?
Es gibt in der Coronakrise so etwas wie die Macht des Faktischen (die allerdings von einer lautstarken Minderheit bestritten wird). Ganz offenbar handelt es sich um eine gefährliche und noch wenig erforschte Krankheit. Im Umgang damit sind Mediziner und Politiker zwangsläufig Lernende und Suchende, machen auch Fehler, müssen sich korrigieren. Was dabei am wenigsten hilft, ist Ideologie. Jede Regierung ist verpflichtet, Schaden zu verhindern. Notfalls auch mit drastischen Maßnahmen, die freilich kein Eigenleben über ihren Anlass hinaus entwickeln dürfen.
Genau das aber befürchten nicht wenige. Ein Leser schreibt von »völlig überzogenen und wohl eher politisch motivierten Maßnahmen der Regierung (Bundestagswahl im Herbst)!«. Teilnehmer der Anti-Corona-Demos fühlen sich schon in einer Diktatur, wahlweise wie in der DDR, in China oder im Dritten Reich. »Gemeinsam im Bundestag gegen das Volk, im Namen von Corona unterm Hakenkreuz«, fasst ein Briefautor seine Weltsicht zusammen. Ein anderer schreibt: »Keiner, den ich kenne, auch im Ausland nicht, merkt in seinem Umfeld Massenerkrankungen und Sterben. Das geschieht nur in den Medien! Angstmache, um Demokratie abzubauen, denn mit der Klimahysterie hat es nicht geklappt.«
Ja, es gab Entwürfe für eine datenrechtlich schwer bedenkliche Corona-App - nach scharfer Kritik wurde die App neu konzipiert. Ja, es gab Pläne für einen obligatorischen Immunitätsnachweis - sie wurden inzwischen zurückgezogen. Sind das Anzeichen für eine Diktatur - oder doch für eine funktionierende Demokratie?
Die Einschränkungen der Grundrechte würden wir ignorieren, schreiben uns Leser. Zitat: »Es spielt für das ›nd‹ anscheinend kaum eine besonders wichtige Rolle mehr, dass große Teile des Grundgesetzes einfach über Nacht per Verordnung verfassungswidrig außer Kraft gesetzt wurden.« Und ein anderer Briefeschreiber: »Ihr seid die Verschwörung.«
Richtig ist: Die Aussetzung von Grundrechten ist ein gravierender Eingriff des Staates in das Leben der Gesellschaft. »Wir müssen auf der Hut sein, dass Freiheitsrechte nicht als beliebige Werte angesehen werden, die man sich in Schönwetterzeiten leisten kann, aber auf die man notfalls auch verzichten kann«, sagte die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. »Es kann nicht sein, dass die Bekämpfung einer Pandemie die Verfassungsordnung auf Dauer außer Kraft setzt«, sagte der Philosoph Julian Nida-Rümelin. Beide Zitate stammen aus großen Interviews im »nd«. Man muss es nur lesen wollen.
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