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Eine Fassade aus Vernunft

Die deutsche Debatte um Achille Mbembe zeugt von kolonialer Amnesie

  • Robert Heinze
  • Lesedauer: 7 Min.

Paul Biya macht sich rar. Der Gesundheitszustand des 87-jährigen Präsidenten von Kamerun, seit 1982 im Amt und damit einer der am längsten regierenden noch lebenden afrikanischen Herrscher, ist bereits seit einiger Zeit Gegenstand wilder Gerüchte und Verschwörungstheorien im Land. Lieber hält er sich in einem Genfer Hotel auf als in dem Land, das er regiert; die spärlich veröffentlichten Beweisfotos heizen die Gerüchte nur noch mehr an. Die letzten Wahlen 2018 nannte die Zeitschrift »Foreign Policy« eine »Meisterklasse der Fake-Demokratie«. Korruption ist endemisch in Kamerun; Biya selbst hält sich auch mit der Kontrolle über die Öleinkommen in Kooperation mit dem französischen Ölkonzern Total an der Macht. Der Konflikt um die anglophone Minderheit ist eskaliert; die Armee verübte Massaker an Zivilisten. Gleichzeitig werden Kritiker ohne rechtmäßigen Prozess inhaftiert. Biya zählt zu den schlimmsten Diktatoren Afrikas. Trotzdem ist er, im Gegensatz zu Robert Mugabe etwa, in der westlichen Öffentlichkeit kaum bekannt.

Dabei ist Biya in der afrikanistischen Theorie zu einiger Berühmtheit gelangt: Die perverse Gestalt des Autokraten ist Gegenstand eines Essays, der den damals zwar in Frankreich gut vernetzten, aber ansonsten unbekannten Historiker Achille Mbembe 2001 auf einen Schlag zu einem der wichtigeren Theoretiker in der Afrikanistik machte: »The Thing and its Doubles« (Das Ding und seine Vervielfältigungen), eine Studie über die Rabelais’schen Absurditäten der postkolonialen Macht, gespiegelt durch den Körper (das Ding) des Herrschers Biya, wie er in einem populären kamerunischen Cartoon dargestellt wird. Unersättlich und brutal, lächerlich und mächtig zugleich, Objekt quasireligiöser Rituale und wilder Gerüchte, steht »Popaul«, so der Spitzname des Präsidenten im Cartoon, für das Halluzinatorische, die brutale Körperlichkeit und Unentrinnbarkeit der Macht in der »Postkolonie«.

Die Debatte
Der aus Kamerun stammende und in Südafrika lehrende Politologe Achille Mbembe und sein 2011 erschienenes Buch »Politik der Feindschaft« stehen im Zentrum einer Debatte um Antisemitismus und die Kritik an Israels Besatzungsregime im Westjordanland. Der Historiker Robert Heinze blickt darauf, wie die Debatte in Deutschland geführt wurde - und was das mit kolonialer Amnesie zu tun hat.

Fortdauern kolonialer Momente

Mbembe, selbst politisch aktiv, hatte Kamerun in den frühen 1980er Jahren verlassen, nachdem er seine Abschlussarbeit wegen ihrer Thematisierung des nationalistischen Widerstands um Ruben Um Nyobè nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit verteidigen konnte. Um Nyobè war 1958 von der Kolonialmacht Frankreich ermordet worden - wie Mbembe bemerkt: eine Vorahnung auf das Schicksal so vieler anderer antikolonialer Führungsfiguren, inklusive Patrice Lumumba. Danach hatten Biya und sein Vorgänger Ahmadou Ahidjo versucht, ihn vergessen zu machen. Beide waren eng mit Frankreich und dem Ölkonzern Elf Aquitaine (später Total) verbunden: Die Netzwerke der »Françafrique« sind heute noch wirksam. Später schrieb Mbembe, Kamerun sei ein »Nicht-Ort« zwischen zwei Welten, keiner zugehörig. Dies nennt Mbembe »die Postkolonie«: »auf chaotische Weise pluralistisch«, aber dennoch kohärent, voller Zeichen und Rituale über die Macht, die gleichzeitig beständig subvertiert wird, charakterisiert von politischer Improvisation, einer Tendenz zum Exzess und einem gewalttätigen »politischen Mechanismus«. Sie ist eine Fortführung der perversen Ausübung der Macht im Kolonialstaat mittels einer Art epistemischer Gewalt, die sich in der Verfügung über Körper ausdrückt, aber ihre Kontinuität durch sprachliche Praxis und eine gemeinsame Vorstellungswelt sichert.

Wie andere postkoloniale Theoretiker (von denen er sich gleichzeitig abgrenzt), widmet sich Mbembe in seinem Werk dem Fortbestehen »kolonialer Momente« in nominell unabhängigen Staaten. In »Kritik der schwarzen Vernunft« zieht er die weiteren Konsequenzen daraus für eine Philosophie der Geschichte und verallgemeinert diese These zur Forderung, die Globalgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte von der Figur des »nègre« her zu denken - wohlgemerkt wiederum eine imaginäre Figur, aber eine historisch äußerst wirksame.

Denn der Kontinuität des kolonialen Charakters politischer Herrschaft und Staatsgewalt steht in Europa, und ganz besonders in Deutschland, eine koloniale Amnesie gegenüber - eine Amnesie, die, wie Henning Melber und Reinhart Kößler anmerken, nicht »die Ausschaltung von Wissen, sondern von Erinnerung« bedeutet, bis hin zur aktiven Verdrängung. Das zeigt sich gerade in der Debatte um Achille Mbembe, in der die Tatsache, dass er aus Kamerun - einer ehemals deutschen Kolonie - stammt, kaum eine Rolle spielt, aber gleichzeitig ständig im Hintergrund mitzuschwingen scheint. Auf den Punkt brachte das Tobias Rapp auf »Spiegel Online«, als er allen Ernstes behauptete, da Mbembe sich nicht für deutsche Kolonialgeschichte interessiere, sei eine Debatte um seine Person »der falsche Anlass«, um über die Frage ihrer Aufarbeitung zu diskutieren - ein Paradebeispiel kolonialer Amnesie. Mbembe zeigt zudem in seiner historischen Arbeit durchaus die prägende Kraft deutscher Kolonialherrschaft in Kamerun: Ihre Restrukturierung des geografischen Raums des Landes, mit einem Hinterland, dessen Transportströme allein in Richtung Küste zum Export verliefen, wirkt bis heute nach.

Die Postkolonie steht

Aber auch andere Stimmen in der Debatte zeigen deutlich auf, wie tief die hartnäckige Weigerung, die Kolonialzeit in eine nationale Erinnerungskultur einzubinden, die deutsche Öffentlichkeit prägt. Meron Mendel und Saba-Nur Cheema werfen in einer bizarren Umkehrung postkolonialer Konzepte gleich der ganzen postkolonialen Theorie vor, sie verbleibe in kolonialen Mustern. Ihre »binäre Aufteilung der Welt in Unterdrücker und Unterdrückte« ließe keinen Platz für eine Konzeptionalisierung von Antisemitismus und mache sie »tatsächlich zum zweiten Mal abhängig von Ex-Kolonialherren«. Sie blenden damit nicht nur eine lange Auseinandersetzung der postkolonialen Studien mit dem Verhältnis zwischen Kolonialismus, Shoah und kapitalistischer Moderne aus, sondern auch die im Gefolge von Fanons Hegel-Lektüre etablierte Dialektik zwischen Kolonisierer und Kolonisierten - was hier in der Unterstellung gipfelt, ausgerechnet Mbembe, der diese Dialektik hervorhebt, bleibe darin unbewusst gefangen. Ijoma Mangold erledigt mit Mbembe gleich jede kritische Geschichte der Aufklärung und des Kapitalismus mit: Sklaverei, so Mangold, könne man auch einfach als Heuchelei von Seiten der großen Aufklärer sehen, statt wie Mbembe als »die Kernidee des Projekts Moderne.« Die Abolitionsbewegung führt er als die Aufklärung rettendes Gegenbeispiel an.

Nun gibt es inzwischen so viel historische Forschung über die Sklaverei und ihre Rolle für die Akkumulation im frühen Kapitalismus, dass Mbembes These keineswegs originell ist - im Gegenteil wird er selbst durchaus zu Recht dafür kritisiert, dass er die politökonomischen Aspekte der »Postkolonie« zu Gunsten einer poststrukturalistisch geschulten Psychoanalyse vernachlässige. Ausgehend von Eric Williams und C.L.R. James haben sich ganze Forschungsfelder der Diskussion um die Relevanz der Sklavenplantage und des Sklavenhandels für die Geschichte des Kapitalismus gewidmet. Beide relativieren die Bedeutung der Abolitionsbewegung, zum einen durch politökonomische Einordnung (Williams), zum anderen durch den Hinweis auf die haitianische Revolution, in der die Sklaven selbst ihre Teilhabe an den allgemeinen Menschenrechten einforderten (James). Um vor dem Hintergrund solcher jahrzehntelangen Diskussionen unter Intellektuellen aus dem globalen Süden eine ungebrochene Geschichte der Aufklärung zu verteidigen, braucht es einen starken Unwillen, über Sklaverei, Kolonialismus, ihre Relevanz für die Geschichte des globalen Kapitalismus und die nationalen Gesellschaften der Mutterländer zu sprechen: koloniale Amnesie.

Die koloniale Amnesie treibt spezielle Blüten. So formuliert Thomas Assheuer in der »Zeit« die These, Mbembes Antisemitismus sei ein Resultat der Erziehung durch dominikanische Missionare und »der altkatholische Blick auf die Hebräische Bibel« käme »nun als intellektueller Re-Import durch die Postcolonial Studies« zurück in den Westen, der offensichtlich im linear fortschreitenden Geschichtsmodell dieses Liberalismus längst seine christlich-antisemitischen Wurzeln abgelegt hat. Man fühlt sich an Joseph Conrads Erzählung »Heart of Darkness« erinnert, in der sich ebenfalls die verborgenen dunkel-primitiven Aspekte westlicher Kulturen im rassistisch kodifizierten »Anderen« Afrikas spiegelten - und unter dessen Einfluss an die Oberfläche stiegen. Mbembe hielt dem schon 2016 in einer biografischen Notiz eine Erkenntnis bei seiner Ankunft im Pariser Exil entgegen: »In allen alten Kulturen - vor allem in den alten Kolonialkulturen - liegt hinter einer Fassade aus Vernunft und Höflichkeit eine dunkle Seite verborgen.« Die rassistische Struktur der kolonialen Herrschaft selbst war es, die diese Dunkelheit produzierte. Mbembe entdeckte sie in der historischen Kontinuität der Postkolonie wieder. Seine deutschen Kritiker dagegen blenden sie aktiv aus -, und wiederholen sie damit erneut.

Paul Biya ließ sich letzten Dienstag nach mehr als zwei Monaten Abwesenheit wieder vor Fernsehkameras blicken. Noch steht der Körper des Präsidenten, und mit ihm die Postkolonie.

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