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Drosten blamiert die »Bild« mit nur einem Tweet
Warum die Berichterstattung des Boulevardmediums über eine Corona-Studie schon am journalistischen Handwerk scheitert
»Wo Bild als Zeitung durchgeht, gelten Frisöre als Hirnforscher. Und führen sich auch so auf«, erklärte der Autor und Sänger Wiglaf Droste 2010 in einen Interview in der »Süddeutschen Zeitung«. Das Zitat ist Teil einer Antwort auf die Frage, wen sich Droste als Chefredakteur der »taz« für einen Tag vorstellen könnte, nachdem der damalige »Bild«-Chef Kai Diekmann diese Position bereits inne hatte. Der Künstler machte sich mit der Äußerung darüber lustig, dass linksliberale Journalisten sich einen Mann der Springer-Presse ins Haus holten und dafür feierten, obwohl es sich bei »Bild« um ein »Organ der Niedertracht« (Max Goldt, Schriftsteller) handelt.
Wie das Boulevardblatt arbeitet, musste gerade Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité in Berlin, erfahren. Im Gegensatz zu vielen anderen »Opfern« der »Bild«-Methoden machte der Wissenschaftler allerdings nicht den Fehler, die Angelegenheit auf sich bewenden zu lassen, sondern veröffentlichte den Vorgang.
Am Montagnachmittag teilte Drosten auf Twitter den Screenshot einer Anfrage des »Bild«-Reporters Filipp Piatov, der den Virologen mit vier Zitaten anderer Wissenschaftler zu einer kürzlich unter der Leitung des Charité-Virologen veröffentlichen Studie konfrontierte. Wie aus der Mail hervorgeht, erhielt Drosten die Anfrage um 15 Uhr, Piatov forderte eine »kurzfristige Stellungnahme« bis 16 Uhr ein. Was diesen Zeitdruck journalistisch begründete, ist absolut unklar. Die Studie ist bereits seit dem 29. April öffentlich, was in dem noch am Montag veröffentlichten Artikel auf Bild.de sogar erwähnt wird. Dennoch gab Piatov Drosten nur eine Stunde Zeit für seine Antwort.
Der Professor ließ sich auf diese dreiste Manöver allerdings nicht ein und machte die Anfrage öffentlich. »Interessant: die Bild plant eine tendenziöse Berichterstattung über unsere Vorpublikation zu Viruslasten und bemüht dabei Zitatfetzen von Wissenschaftlern ohne Zusammenhang. Ich soll innerhalb von einer Stunde Stellung nehmen. Ich habe Besseres zu tun«, kommentierte er den Screenshot der Mailanfrage. Der Tweet wurde daraufhin tausendfach geteilt.
»Bild« ließ es sich natürlich nicht nehmen, am späten Montagnachmittag um 16.34 Uhr dennoch einen Artikel unter der Überschrift »FRAGWÜRDIGE METHODEN. Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch« zu publizieren. Natürlich erwähnt Piatov in seinem Beitrag, dass Drosten eine Stellungnahme ablehnte, spart dabei aber sowohl die extrem knappe Fristsetzung als auch den Vorwurf verkürzt wiedergegebener Zitate aus.
Wenig überraschend folgt der Beitrag dem typischen »Bild«-Muster: Piatov suggeriert nicht nur, andere Forscher hätten »zentrale Schwachpunkte« in der Charité-Studie gefunden, der Text ist gespickt mit Alarmismus und der angeblichen Enthüllung, nach »Bild-Informationen« würde es sogar innerhalb von Drostens Forscherteam Kritik geben. Bedeutungsschwer heißt es: »Star-Virologe Christian Drosten (48) lag mit seiner wichtigsten Corona-Studie komplett daneben.«
Ist einem »Bild«-Reporter ein wissenschaftsjournalistischer Scoop gelungen? Selbstverständlich nicht.
Der »Bild«-Artikel krankt schon daran, dass er eine wichtige Information unterschlägt: Bei der Studie handelt es sich um eine sogenannte Vorpublikation, eine wissenschaftliche Begutachtung fand vor der Veröffentlichung nicht statt. Drosten hatte in der Vergangenheit mehrfach darauf hingewiesen, darunter in seinem NDR-Podcast »Corona-Update«. Gleichzeitig forderte er die internationale Forschergemeinde auf, ihm kritische Anmerkungen zu seiner Studie zu schicken, um diese einarbeiten zu können. Ein in der Forschung absolut übliches Vorgehen, auch und gerade jetzt in der Coronakrise, weil die Wissenschaft weltweit händeringend nach Antworten auf den Umgang mit dem Virus sucht.
Wissenschaftler distanzieren sich von »Bild«-Bericht
»Bild«-Reporter Piatov sprach dann auch mit den angeblichen Drosten-Kritikern nicht selbst, sondern zitierte lediglich einige für seine These passende Passagen aus wissenschaftlichen Arbeiten. Die vorgeschobenen Kronzeugen gegen die »Drosten-Studie« fanden ihre Instrumentalisierung dann auch überhaupt nicht in Ordnung und meldeten sich über die sozialen Netzwerke zu Wort.
»Ich will nicht Teil einer Anti-Drosten-Kampagne sein. Ich stand und stehe in keinerlei Kontakt zur Bild. Natürlich habe ich höchsten Respekt vor Christian Drosten. Deutschland kann froh sein, ihn und sein Team zu haben«, twitterte der Statistiker Jörg Stoye, Wirtschaftswissenschaftler an der Cornell University. In einem weiteren Tweet erklärt Stoye, er habe zwar »kritische Anmerkungen zur statistischen Auswertung in der Studie«, sieht dies aber genau wie Drosten im Sinne einer wissenschaftlichen Meinungsbildung.
Auch der von »Bild« zitierte Statistiker Dominik Liebl meldete sich zu Wort: »Ich wusste nichts von der Anfrage der BILD und distanziere mich von dieser Art Menschen unter Druck zu setzen auf das schärfste«, so Liebl. »Mein Open Review Report begutachtet die Statistik. Dort sind Fehler passiert. Dies kann passieren. Passiert jedem Wissenschaftler einmal. Nun muss man die Ergebnisse neu interpretieren.« Ähnlich äußerte sich auch Christoph Rothe, Professor für Statistik an der Universität Mannheim.
Auch von der angeblichen internen Kritik, die »Bild« recherchiert habe, bleibt nicht viel übrig. Fehler seien »bereits eingestanden« worden, schreibt Piatov, ohne eine genaue Quelle oder Details zu nennen. Professor Drosten klärte diese vermeintliche Enthüllung am späten Montagabend via Twitter auf. Bei dem Kollegen handelte es sich um einen englischsprachigen Mathematiker, der »am Telefon in die Irre geführt« worden sei. Dieser habe dem »Bild«-Reporter lediglich gesagt, dass gerade an einem Update der Studie gearbeitet wird, sich am Ergebnis jedoch nichts ändere. »Daraus wird dann eine interne Kritik gemacht«, schreibt Drosten.
Keine Ahnung vom wissenschaftlichen Diskurs, kein Kontakt mit den angeblichen Drosten-Kritikern - diese »Bild«-Geschichte ist wie aus dem Lehrbuch für miesen Boulevard, der den Zusatz »Journalismus« nicht verdient hat.
Bezeichnend ist, dass »Bild« natürlich nicht einräumt, unsauber gearbeitet zu haben, sondern Piatovs Kollegen Nebenkriegsschauplätze eröffneten und Drosten vorwarfen, er habe die Kontaktdaten des Reporters veröffentlicht. Tatsächlich zeigt der ursprünglich verbreitete Screenshot sowohl Piatovs redaktionelle Festnetz- als auch Mobilfunknummer. Drosten korrigierte dies jedoch noch am Montagnachmittag und veröffentlichte einen geänderten Mailausschnitt.
Dass ausgerechnet »Bild«-Reporter sich über mangelhaften Datenschutz empören, ist eine ganz eigene Geschichte.
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