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Händewaschen und schwereres Geschütz
Im Dresdner Hygiene-Museum erfährt man, wie Seuchen bekämpft wurden - und wie umstritten das stets war
In einer Vitrine im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden (DHMD) sind sechs gläserne Objekte ausgestellt, die wie Lüster oder filigrane Schmuckstücke wirken. Eine von Perlen überzogene Kugel, in der ein von Noppen besetzter Zylinder schwebt; eine Spirale, die einer überdimensionalen Raupe ähnelt. Es handelt sich um Modelle von Viren in millionenfacher Vergrößerung, die der Glaskünstler Luke Jerram geschaffen hat: HIV- und Ebola-Virus, Erreger von Vogelgrippe und Pocken; ein Vertreter der Adenoviren, die bei Menschen die Atemwege befallen; schließlich ein Virus, der Bakterien angreift und wie ein Antibiotikum wirken kann. »Er zeigt, dass Viren nicht nur schaden«, sagt Carola Rupprecht, Leiterin des Bereichs Bildung und Vermittlung.
Die Virenmodelle sind seit 2016 in der Dauerausstellung des DHMD zu sehen. In dieser geht es um Leben und Sterben, Ernährung und Sexualität, Denken und Erinnern. Jerrams Objekte wurden angekauft, weil sie mit ihrem ästhetischen Reiz »gängige Vorstellungen von Krankheitserregern als gefährlich und potenziell tödlich« unterliefen, hieß es damals. Dennoch gehören sie zur Abteilung über das »Leben mit Krankheit« - in der sie freilich seither nicht gerade im Mittelpunkt des Interesses standen, sagt Rupprecht. Führungen machten selten vor dieser Vitrine Halt. Dass Viren allgegenwärtig sind, ist Besuchern bewusst; dass Ebola in Afrika ein ernstes Problem ist und die Pocken das bis in die 1970er Jahre auch hierzulande waren. Dennoch schien es ein Phänomen in geografischer oder historischer Ferne zu sein. Dass ein Virus auch das Potenzial hat, unsere heutige Gesellschaft in beispielloser Weise zu erschüttern - das, sagt Rupprecht, »haben wir nicht mehr auf dem Schirm gehabt«.
Jetzt aber hat sich ein Virus mit Wucht auf den Schirm gedrängt; die Welt dreht sich nur noch um Corona; und das DHMD könnte gewissermaßen das Museum zur Krise sein - wenn nicht der Museumsbetrieb nach wochenlanger Schließung nur langsam wieder in die Gänge käme. Kaum 20 Besucher pro Tag verirren sich in den weißen Bau am Dresdner Großen Garten; Vorträge oder Diskussionen sind wegen strikter Hygienevorgaben vorerst undenkbar. Gleichwohl dreht sich in dem Haus, das seine Wurzeln in einer von Mundwasserfabrikant Karl August Lingner organisierten Internationalen Hygieneausstellung von 1911 hat, schon immer vieles um Krankheiten. Es geht um die Frage, was Wissenschaftler über sie herausfinden und wie dieses Wissen einer breiten Bevölkerung zu vermitteln ist; wie die Verbreitung zu unterbinden ist, und darum, welche Rolle dem Einzelnen und dem Staat dabei zukommt.
Gegen eine Seuche helfen gute Argumente nicht
Ein großer Teil der Sammlung, sagt ihre Leiterin Susanne Roeßiger, entstammt Kampagnen zu Gesundheitsthemen. Es sind Plakate, Filme und andere Werbeartikel, die ein bestimmtes Verhalten propagieren: weniger rauchen, gesünder essen, mehr Sport treiben, Kondome nutzen. Slogans aus früheren Jahrzehnten klingen dabei nicht selten wie Befehle. Mittlerweile haben sie eher den Charakter von Empfehlungen. Roeßiger beobachtet einen »Paradigmenwechsel«: weg von strenger Gesundheitserziehung, hin zu Aufklärung. »Der Einzelne«, sagt sie, »soll sich selbst verantwortlich fühlen für seine Gesundheit.« Im Zweifelsfall reagiert er nun freilich empfindlich, wenn ihm doch Vorschriften gemacht werden. Er wolle sich, zürnte Regisseur Frank Castorf, von »Frau Merkel« nicht vorschreiben lassen, »wann ich mir die Hände zu waschen habe«.
Es ist freilich ein Unterschied, ob sich eine Kampagne gegen Übergewicht oder das Rauchen richtet - oder ob es um eine von einem Virus ausgelöste Pandemie mit möglicherweise Tausenden Toten geht. Auch Tabakkonsum oder zu gehaltvolles Essen können aufgrund von Folgen wie Krebs, Diabetes oder Erkrankungen von Herz und Kreislauf tödlich sein; die Behandlung ist teuer. Das erklärt, warum Kampagnen versuchen, Maßhalten und Verzicht zu propagieren. Letztlich liegt die Entscheidung aber bei jedem Einzelnen - der auch mit den Folgen zurechtkommen muss.
Ganz anders bei einer Pandemie, in der ein Virus außer Kontrolle geraten ist. In einem solchen Fall gehe es nicht um allmähliche Verhaltensänderungen, die mit Argumenten oder sanftem Druck bewirkt werden sollen, sondern »sofort um Leben oder Tod«, sagt Roeßiger. Appelle an die Verantwortung des Einzelnen »stoßen da schnell an ihre Grenzen«. Es seien Situationen, in denen regelmäßig Staat und Politik ins Spiel kämen und massive Eingriffe in Privatsphäre und individuelle Freiheiten durchsetzen. Es werde, sagt Roeßiger, »ganz schweres Geschütz aufgefahren.«
Worum es bei einer Pandemie geht, formulierte unmissverständlich der Titel einer Sonderausstellung, die das Dresdner Museum Ende 1995 zeigte. »Das große Sterben« hieß die Schau; Untertitel: »Seuchen machen Geschichte«. Sie drehte sich um Pest und Pocken, Cholera und Tuberkulose - sowie um AIDS, die »damals zeitgenössische Seuche«, so Roeßiger. Beim Blättern im Katalog, von dem im Museum nach einem Vierteljahrhundert nur noch wenige Exemplare aufzutreiben sind, stellt sich Bedauern ein, dass die Ausstellung nicht einfach aus dem Archiv zu holen ist. Denn sie verdeutlicht, dass Reaktionsmuster auf Pandemien sich über Jahrhunderte hinweg erstaunlich ähneln - und dass viele Debatten über Eingriffe des Staates in die Privatsphäre oder die Sinnhaftigkeit medizinischer Empfehlungen, wie sie gerade aufgeregt geführt werden, gar nicht so neu sind.
So ist social distancing keineswegs eine Erfindung aus Coronazeiten. Als ab Mitte des 14. Jahrhunderts die Pest in mehreren Wellen in Europa wütete, die, Stichwort Globalisierung, von Kaufleuten aus Mittelasien eingeschleppt worden war, isolierte man nicht nur die Häuser Betroffener. 1682 riegelte das Militär ein ganzes Dorf vor den Toren Erfurts nach einem auffälligen Anstieg der Todesfälle ab und untersagte das Verlassen bei Todesstrafe. Hafenstädte wie Venedig richteten Lazarette ein, in denen Reisende vier Wochen lang unter Quarantäne gestellt wurden, bis sicher war, dass sie nicht erkrankten. Eigens eingesetzte Gesundheitsbehörden erließen »Pestordnungen«, die bei Androhung drakonischer Strafen öffentliche Veranstaltungen wie Märkte und Tanzabende verboten. Selbst Gottesdienste wurden untersagt, weshalb ein Florentiner Bischof 1630 den zuständigen Beamten wegen Häresie vor Gericht zerrte. Ein- und Ausreiseverbote sowie der Abbruch von Handelsbeziehungen galten als probates Mittel, um die Seuche einzudämmen - mit der Folge, dass Städte wie Frankfurt 1666 Ausbrüche leugneten, um wirtschaftliche Schäden zu vermeiden.
Impfgegner und Impfzwang im Deutschen Reich
Wie umstritten derlei Maßnahmen waren und welchen massiven gesellschaftlichen Widerstand sie teils erzeugten, belegt der Umgang mit den Pocken, die im 18. Jahrhundert die Pest als schlimmste Seuche ablösten und immer wieder durchs Land zogen. »Die Seuche kam, brachte die Kinder um oder bewahrte sie für die Zukunft vor nochmaliger Ansteckung«, heißt es im Katalog - ein Phänomen, das jetzt »Herdenimmunität« genannt wird. Wenn freilich nach vier bis sieben Jahren genügend Kinder ohne Immunität nachgewachsen waren, folgte die nächste Welle.
Erst dank erfolgreicher Impfkampagnen sind die Pocken seit 50 Jahren Geschichte. Sie gelten als »einzige Infektionskrankheit, die durch medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnis von der epidemiologischen Weltkarte gelöscht wurde«, heißt es im Katalog, der freilich eindrücklich schildert, wie steinig der Weg bis dahin war. Eine Pockenimpfung stand ab 1796 zur Verfügung; die Skepsis in der Bevölkerung war indes enorm. Von staatlicher Seite arbeitete man mit Argumenten, Anreizen und Zwang, traf aber auf eine immer breitere Bewegung von Impfgegnern, die sich schon damals auch aus Anhängern von Naturheilkunde und Homöopathie rekrutierte - und im Impfen oft mehr als einen medizinischen Eingriff sah. Ein prominenter Kritiker, Carl Georg Gottlob Nittinger aus Stuttgart, deutete die Impfung als ein »Symbol der politischen Willkürherrschaft über das Volk«. 1874 trat im Deutschen Reich das »Reichsimpfgesetz« in Kraft, das einen, wie es heute hieße, Impfzwang verfügte. Um so skurriler wirkt es, dass Kritiker der Coronamaßnahmen derzeit teils mit Reichsflaggen wedeln.
150 Jahre später scheinen sich die Debatten zu wiederholen, teils weit schärfer. Ein Grund: Corona sei die erste Pandemie, deren Bekämpfung auch unter Beobachtung der sozialen Medien stattfinde, sagt Susanne Illmer, Leiterin der Abteilung Wissenschaft im DHMD. Dort werden Verschwörungstheorien und Zweifel an wissenschaftlichen Befunden zur Gefährlichkeit des Virus gestreut, teils mit Verweis auf widerstreitende Studien. Dieses Phänomen kennt man am DHMD gut. Laien verlangten von Experten oft eindeutige Aussagen - die diese nicht bieten können. »Dass Wissenschaft stets kontrovers ist und sich Erkenntnisgewinn in einem Diskurs vollzieht, ist sehr schwer zu kommunizieren«, sagt Illmer.
Im DHMD hat Corona den Blick auf solche Probleme bei der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse geschärft - und auch den auf das Selbstverständnis. Nach der Gründung und in der DDR war das Haus erklärtermaßen eines der Gesundheitserziehung. Ab 1991 erfand es sich neu: als »Museum vom Menschen«, in dem es nicht um Hygiene ging, sondern um größere Dinge: Arbeit und Spiel, Alter und Tod. »Wir wollten nicht mehr das Museum vom Händewaschen sein«, sagt DHMD-Sprecher Christoph Wingender: »Wir waren überzeugt, das hat sich erledigt; das haben wir im Griff.« Nun offenbart ein Virus die Verwundbarkeit des Menschen, und es geht wieder um die »ganz elementare Dinge«: Besucher kommen - »und wir sagen ihnen erst einmal: Wascht euch die Hände!«
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