Du in der Millionenstadt

  • Frank Eckardt
  • Lesedauer: 2 Min.
Henning Kreitel – Du in der Millionenstadt

Auf den folgenden Seiten werden Sie durch die »astronomie der straße« ziehen und ab und zu an Wänden mit »zerhackten graffitiherzen« pausieren. Henning Kreitel nimmt uns mit durch seine Wahrnehmungswelt einer Millionenstadt, die zweifelsohne als Berlin zu identifizieren ist und dennoch darüber hinaus großstädtisch ist.

stadtsalat - Henning Kreitel
saftiges schreigespräch
auf wummernden handlautsprechern
angemacht mit handygegröl
eine prise huptumult
und vorsichtig
verpackungsknistern
im presslufthammertakt
unterheben
garniert wird mit
angerostetem bahnquietschen
je nach dröhnbelieben
lärmfrisch servieren

Lyrik über die Großstadt hat es schon viel gegeben. Das Gedicht scheint mit der Flüchtigkeit des Urbanen besser mithalten zu können als die Prosa. Das galt schon, als Franz Hessel sein Buch über die »Spaziergänge in Berlin« vor sieb­zig Jahren veröffentlichte. Doch es hat sich einiges getan seitdem, und viele offensichtliche Fragen, mit denen das Leben in Berlin heute zu kämpfen hat, eignen sich nicht, um nostalgisch an die Zeiten des Flaneurs anzukoppeln. So ist für Henning Kreitel das Berlin der 2010er Jahre kein Ort der Romantik. Vielmehr beschreibt er in seinen sprachlichen Skizzen Momente und Empfindungen, die von Ambivalenz und schwieriger Aneignungsfähigkeit zeugen. In seinen Augen haben sich die »lustentkernten kiezbewohner« schon lange mit den Veränderungen in ihrer Nachbarschaft abgefunden, die sie nicht zu verhindern vermögen.

Berlin ist im Übergang und generiert seine neuen Ortsgefühle und widersprüchlichen Emotionen. Räume werden durch die Gentrifizierung fremdbestimmt, ihre »emporen« sind aber einladend für die Wohnungseinbrecher. Diese Stadt hypnotisiert auf eine eigentümliche Weise und produziert Bilder, die verstören. Fahrradfahrer werden zu Zielscheiben, Blaulichter entwickeln die Qualität von Sirenen, während zugleich um Leben gerungen wird. Lassen sich diese Gefühle noch einhegen und auf einen Nenner bringen?

Einst waren Städte nur dadurch getrennt, dass Bewohner in verschiedensten Quartieren wohnten und sich an Orten der Arbeit, der Freizeit und der Kultur irgendwo temporär aufeinander einlassen mussten. Diese Segregation zwischen den sozialen Schichten wird heute neu ausgefochten. Die Trennlinien werden härter gezogen und durchqueren alle Stadtteile. Zugleich passieren wir diese symbolischen Grenzen durch eine physische Mobilität, die uns emotional nicht mehr mitzunehmen weiß […]

Frank Eckardt, Professor für Stadtsoziologie an der Bauhaus-Universität Weimar

Henning Kreitel: im stadtgehege mit Cyanotypien des Autors, Mitteldeutschen Verlag, 110 S., kt., illustr., 12,00 EUR

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