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Ein paar Sterne am Himmel, taumelnd
Edna O’Brien erzählt in »Das Mädchen« die Geschichte der nigerianischen Chibok Girls
Vielleicht werden die literarischen Themen auch hierzulande wieder existenzieller werden, wenn das Leben so an einem zerrt und den Alltag und die Normalität aus seiner Umlaufbahn katapultiert. Der Coronakrise sei dank. Oder eben auch nicht. Literatur beschäftigt sich schließlich mehr oder weniger mit der unmittelbaren Lebenswelt, versucht sie zu durchdringen und ihre Komplexität fassbarer zu machen. Man kann es der Literatur hierzulande deshalb nicht unbedingt vorwerfen, wenn sie sich in nicht geringem Ausmaße mit den Psychen und Problemen von Anwälten, Unternehmern oder anderen gestressten Mittelstandshelden beschäftigt. Der Wohlstand schafft eigene Herausforderungen, die im Vergleich zu anderen Lebenswelten mitunter banal und überkandidelt wirken mögen.
Die irische Schriftstellerin Edna O’Brien hat für ihren 19. Roman einen anderen Weg gewählt, einen, der die heute 89-Jährige von Beginn ihrer literarischen Laufbahn Anfang der 1960er Jahre ausgezeichnet hat. »Das Mädchen« ist das vielleicht mutigste Buch von O’Brien geworden, und vielleicht der letzte Roman am Ende einer langen Karriere. Darin konfrontiert sie die Leser mit einer wahren und erschütternden Begebenheit, die sich 2014 vor den Augen der Weltöffentlichkeit in Nigeria abspielte. Im Frühjahr jenen Jahres verschleppten Terrormilizen der islamistischen Boko Haram 276 Schulmädchen aus einem christlichen Internat in Chibok im Nordosten des Landes. 82 dieser Mädchen wurden 2017 nach Verhandlungen freigelassen, einige konnten bereits vorher fliehen oder wurden befreit. Bis heute ist das Schicksal der restlichen mehr als 100 jungen Frauen ungeklärt.
Edna O’Brien hat diese furchtbare Geschichte nicht mehr losgelassen. Sie ist nach Nigeria gereist, hat mit den befreiten Mädchen Gespräche über deren Schicksale in der Gefangenschaft und über ihr Leben danach geführt und insgesamt drei Jahre lang für den Roman recherchiert. »Du hörst diese schrecklichen Geschichten und absorbierst sie«, sagte sie der britischen Zeitung »Guardian«. »Sie verfolgen mich immer noch. Ich wache manchmal auf und denke an die Mädchen und den Horror, den sie durchlebt haben.«
In gewisser Weise schließt sich damit für die Irin ein Kreis in ihrem Leben. Denn berühmt wurde sie mit der »Country Girls«-Triologie, in der O’Brien das vor allem für Frauen repressive und gewaltvolle Klima im stockkonservativen und patriarchalischen Irland nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert. Ihre Bücher landeten damals in ihrer Heimat auf dem Index. Ist es in jenen Romanen allerdings eine lyrische Sprache, mit der sich die Heldin gegen den düsteren Alltag stemmt oder ihr sexuelles Verlangen geradezu freischlägt, regieren in »Das Mädchen« spartanische Sätze, die wie ein Steinhagel auf den Leser einprasseln: »Bei dem zweiten Mädchen war es genauso. Ich war die Dritte. Während ich mich auf den Tisch legte, blickte ich hoch und sah ein paar Sterne am Himmel, taumelnd, weit voneinander entfernt. Es war noch nicht dunkel. Mir war, als würde auf mich eingestochen, wieder und wieder, und dann ein wilder Schrei, als er ganz in mich eingedrungen war. Ich sagte meinen Eltern und allen, die ich kannte, Lebewohl!«
Die Geschichte beginnt mit der Verschleppung dieses 15-jährigen Mädchens, deren Name nur wenige Male genannt wird und somit als Synonym für all die anderen Mädchen steht, die das gleiche Schicksal erlitten. Die Mädchen werden immer wieder von den Kämpfern der Miliz vergewaltigt, sie müssen harte Feldarbeit leisten, wenn sie ein Kind gebären und es kein Junge wird, der als Kämpfer erzogen werden kann, werden die Mütter mit Ignoranz gestraft.
Auch Maryam wird mit einem Kämpfer zwangsverheiratet, wird aber schon bald von ihm getrennt, weil ihm infolge einer Wunde ein Beim amputiert wird und er abseits als Wache sein Leben fristen muss.
O’Briens Reife als Autorin merkt man auch daran, wie zurückhaltend sie die Erzählung aus der Sicht der Überlebenden austariert: sprachlich wie moralisch. Es geht nicht um eindimensionale Schuldzuweisungen, sondern um das nackte Leben und Überleben aller, die in ein mörderisches System aus Gewalt, Religion, Aberglauben und althergebrachten Lebensweisen eingebunden sind.
Die Kapitel sind anfänglich kurz, und werden, als die Heldin des Romans mit ihrem Kind und einer Leidensgenossin infolge der Bombardierung des Milizenlagers fliehen kann, zunehmend länger, so als würde sie ihr Sprache, ihr Leben zurückerobern - und überhaupt eine neue Freiheit entdecken, was sich auch in der Beschreibung von Natur und Umgebung verdeutlicht.
Zusammen mit ihrem Kind gelangt Maryam nach der abenteuerlichen Flucht schließlich in die Stadt, wo sie zusammen mit anderen befreiten Frauen von Präsident, Gouverneuren und von einer Menschenmenge geehrt und gefeiert wird. Danach geht es zurück in ihr Heimatdorf. Angekommen erfährt sie nicht die sehnlich erwartete liebevolle Begrüßung, sondern Ablehnung, Verachtung und Hass. Maryam wird als Ausgestoßene behandelt, als »Hure der Terroristen«. Sie wird zu einer Geistheilerin gebracht, die der gequälten Frau versucht, mit Wurzelsaft und rohen Eiern die Dämonen auszutreiben. An dieser Stelle ist die Sprache der verstörten Maryam längst wieder verkümmert, die Kapitel kürzer geworden. Maryam flieht erneut - zu einem Kloster: »Als das zweiflügelige Tor des Klosters geöffnet wurde, damit unser Wagen hineinfahren konnte, roch ich Blütenduft. Überall Blüten, sogar an dem flachen Gebäude. Blumenbeete säumten die niedrigen Buchsbaumhecken. Die Sonne schien.«
Es ist nicht das Ende von Maryams Odyssee. Aber es ist der Beginn einer bewegenden Emanzipation, die O’Brien derart einfühlsam und plastisch beschreibt, als ginge es hier um sie selbst. »Ich musste all die Dinge, die sich 60 Jahre lange in meinem Schreiben verfestigt haben, abwerfen - Landschaft, Lyrik, Liebe. Ich musste all diese Dinge zur Seite legen und eintauchen, so als sei dies das erste Buch, das ich je geschrieben habe.« Am Ende eines langen Lebens beschenkt sich O’Brien mit einem Befreiungsschlag, mit einer außergewöhnlichen Neufindung - und die Welt mit der Kunst einer großen Hoffnung.
Edna O’Brien: »Das Mädchen«. A. d. Engl. v. Kathrin Razum. Hoffmann & Campe. 256 S., br., 23 €.
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