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»Entsetzliche« Lage bei Wirecard
Nach der Verhaftung von Ex-Chef Markus Braun will die Finanzfirma ihr Image aufpolieren
Die wichtigste Adresse der deutschen Finanzwelt liegt derzeit nicht in Frankfurt am Main, sondern im pittoresken Münchner Vorort Aschheim. Hier hat die Wirecard AG ihren Sitz - der Finanzdienstleister, der erst einen einmalig rasanten Aufstieg in die erste Börsenliga vollzog, um jetzt so tief zu stürzen wie wohl kein Dax-Konzern zuvor. Ein Bilanzskandal um fehlende 1,9 Milliarden Euro führte zum Kursabsturz um über 80 Prozent und könnte auch den Fortbestand gefährden. Am Montagabend stellte sich der per Haftbefehl gesuchte Ex-Chef Markus Braun, wie die Staatsanwaltschaft München mitteilte. Er habe »im ersten Gespräch seine Mitarbeit zugesagt«. Gegen Zahlung von fünf Millionen Euro Kaution und wöchentliche Meldepflicht bei der Polizei kam er am Dienstagnachmittag wieder frei.
Dass die in der Bilanz stehende Summe »mit überwiegender Wahrscheinlichkeit« nicht existiert, kam jetzt bei einer Buchprüfung heraus. Eigentlich sollte das Geld auf Treuhandkonten bei philippinischen Banken liegen, doch diese wie auch die Zentralbank in Manila verneinen dies. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wurde das Geld gestohlen, ohne dass dies dem Unternehmen auffiel, oder es wurde erfunden, um die Bilanz zu schönen. Die Staatsanwaltschaft geht von Letzterem aus und ermittelt gegen Braun sowie drei weitere Manager wegen Verdachts auf Marktmanipulation nach dem Motto: bessere Finanzen gleich höherer Aktienkurs.
Das ist durchaus plausibel, da der Wirecard-Aufstieg vor allem eine Börsenerfolgsgeschichte war. Das Unternehmen hatte zuletzt gut 5000 Mitarbeiter und eine Bilanzsumme von 5,9 Milliarden Euro. Im Vergleich dazu bringt es die Deutsche Bank auf 88 000 Mitarbeiter und eine Bilanzsumme von 1,3 Billionen Euro. Trotzdem war Wirecard an der Börse zeitweilig höher bewertet als die Großbank. Das führte offenbar zu jeglichem Realitätsverlust in der Führungsetage: Wie das US-Finanzportal »Bloomberg« berichtete, soll sie Ende 2019 sogar eine Übernahme der Deutschen Bank zumindest als Option durchgespielt haben. Die Frankfurter winkten jedoch sofort ab. Aktuell liegt Wirecards Börsenwert bei kaum mehr als einem Zehntel von dem der Großbank.
Wirecard selbst versucht derzeit, Schadensbegrenzung zu betreiben. Am Montag wurde das zunächst freigestellte Vorstandsmitglied Jan Marsalek fristlos gekündigt. Zum neuen Chef wurde nach Brauns Rücktritt der Harvard-Jurist James Freis ernannt, der als Experte für die Bekämpfung von Finanzkriminalität gilt.
Das völlig ramponierte Image wieder aufzubessern, wird überlebensentscheidend sein. Das Kerngeschäft von Wirecard besteht in der Abwicklung von Zahlungen zwischen Unternehmen und Privatkunden im Onlinehandel sowie der Ausgabe von Prepaid- und Kreditkarten. Wie bei anderen Finanzgeschäften ist Vertrauen ein zentrales Kriterium: Wenn die Kunden davon ausgehen, dass bei Wirecard große Summen verschwinden, werden sich viele an andere Fintechfirmen wenden, die diese Leistungen ebenfalls anbieten. Gleiches gilt für die Gläubiger: Wenn Banken ihre Kredite an Wirecard kündigen, würde dies zur Insolvenz führen.
Der Skandal um die Finanzfirma zeugt von einem völligen Marktversagen an der hiesigen Börse. Mittlerweile spricht selbst die Finanzaufsichtsbehörde Bafin von einem »kompletten Desaster« und gibt sich selbstkritisch: »Wir sind nicht effektiv genug gewesen, um zu verhindern, dass so etwas passiert«, räumte Behördenpräsident Felix Hufeld jetzt ein. »Wir befinden uns mitten in der entsetzlichsten Situation, in der ich jemals einen Dax-Konzern gesehen habe.« Die Bafin hatte Wirecard trotz immer wieder auftauchender Gerüchte um Unregelmäßigkeiten in Südostasien Rückendeckung gegeben.
Die Behörde untersteht der Bundesregierung, die sich bislang als völlig unbeteiligt darstellt. Während Finanzminister Olaf Scholz (SPD) am Montag bei einer Bankenkonferenz Änderungen bei den Regulierungsbestimmungen ablehnte, sagte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) nach Brauns Verhaftung: »Wirecard ist verpflichtet, aufzuklären und etwaige Missstände abzustellen.«
In der Politik hatte lediglich der Finanzexperte und Linksfraktionsvize Fabio De Masi mehrmals bei der Regierung wie auch bei der Bafin nachgehakt, was es mit den Gerüchten um Unregelmäßigkeiten auf sich hat. Jetzt fordert er die Einführung eines Unternehmensstrafrechts - damit nicht mehr nur einzelne Manager wegen Straftaten angeklagt werden können, sondern auch ganze Firmen.
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