• Kultur
  • »Bund - Gemeinschaft für sozialistisches Leben«

Jede noch so kleine Geste

Mark Roseman erforschte eine bis heute wenig bekannte Geschichte von Rettung und Widerstand

  • Guido Sprügel
  • Lesedauer: 3 Min.

Kann man es schon als Widerstand bezeichnen, wenn man einem verfolgten und ausgegrenzten Menschen einen Blumenstrauß schenkt? Oder handelt es sich hier nur um eine, wenngleich auch wichtige, solidarische Geste? Es kommt wohl auf den gesellschaftlichen Kontext an. Und auf die Definition von Widerstand.

Als Tove Gerson dem Ehepaar Heinemann am 10. November 1938 in Essen einen Blumenstrauß vorbeibringt, ist dieses gerade Opfer eines brutalen Überfalls geworden. Es ist der Tag nach der sogenannten Reichskristallnacht. Überall in der Wohnung liegt zerbrochenes Glas, und es riecht nach verkohlten Gemälden. Den zutiefst verunsicherten Heinemanns hat die Mittdreißigerin Blumen mitgebracht. Vorbei an Nachbarn, die neugierig hinter der Gardine hervorlugen, und mutig durch einen johlenden Mob, der die junge Frau anbrüllt, weil sie »Blumen für die Juden« bringt.

Tove Gerson war Mitglied des »Bundes - Gemeinschaft für sozialistisches Leben«. Er hatte sich in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Essen gegründet und in den folgenden Jahren bis zur Machtübernahme durch die Nazis im ganzen Ruhrgebiet ausgedehnt. Er umfasste indes nie mehr als rund 200 Mitglieder, die sich um den Mathematiker, Pädagogen und Philosophen Artur Jacobs scharten. Ideologisch beriefen sich die Bundisten in erster Linie auf Karl Marx und Immanuel Kant. Darüber hinaus war für sie die »Körperbildung« wichtig. In Gymnastik und revolutionären Formen des Tanzes sahen die Anhänger einen Schlüssel, um den Leib vor den Verheerungen der Industriegesellschaft zu schützen. Wahrscheinlich wäre der Bund, der auch viele Jahrzehnte nach dem Krieg existierte, gänzlich in Vergessenheit geraten, wenn sich nicht der in den USA lehrende Historiker Mark Roseman seiner angenommen hätte.

»Ich lebe mit der Geschichte dieser Gruppe seit rund 20 Jahren«, erzählt Mark Roseman im Gespräch mit »nd«. »Damals hat mich das Ruhland-Museum in Essen gefragt, ob ich mit der Zeitzeugin Marianne Strauss ein Interview führen möchte, einer Jüdin, die durch den Bund gerettet wurde. Daraus ist ein erstes Buch entstanden, und ich wusste immer, dass ich auch noch über den Bund selbst ein Buch schreiben werde.«

Die Geschichte, die der Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Jewish Studies Program an der Indiana University in Bloomington, recherchierte und aufschrieb, galt lange nicht als Heldenerzählung. Die Gruppe war nicht beteiligt an auffälligen, spektakulären Widerstandsaktionen. Ihre Mitglieder lebten ein mehr oder weniger unauffälliges Leben im »Dritten Reich«. Die Kinder gehörten der HJ an, der Hitlerjugend, oder dem BDM, dem Bund Deutscher Mädel; die Männer verweigerten nicht den Dienst in der Wehrmacht. Und doch hielten sie ihr Bund-Leben aufrecht, trafen sich zu Wanderungen und Diskussion. Immer wieder waren sie kurzzeitig inhaftiert und stetig auf dem Radar der Gestapo.

Der »Bund - Gemeinschaft für sozialistisches Leben« entfaltete in den Jahren der NS-Diktatur zunehmend Aktivitäten zur Unterstützung und zum Schutz verfolgter Juden in Deutschland. Was mit dem Blumenstrauß begann, weitete sich zu konkreten Hilfsaktionen aus. Roseman schätzt, dass die Bund-Mitglieder in den 40er Jahren rund 1000 Päckchen mit Lebensmitteln, Kleidung und Pflegeprodukten an deportierte Juden verschickten. Auch dies galt lange Zeit nicht als Widerstand. Wenn man jedoch bedenkt, was es in Deutschland 1942 bedeutete, auf einem Postamt ein Päckchen für einen deportierten Juden aufzugeben, kann man den Mut derer ermessen, die dies taten. Denn darauf stand als Strafe die Einweisung in ein KZ. Zudem haben Bund-Mitglieder auch einzelne Juden versteckt und somit Leben gerettet.

Nach dem Krieg wurde ihnen jedoch in der Bundesrepublik die Anerkennung als Verfolgte oder gar Widerstandskämpfer verwehrt. 2005 ehrte Yad Vashem einige Bund-Mitglieder posthum als »Gerechte unter den Völkern«. Erst seitdem werden die kleinen und großen Gesten dieser sozialistischen, antifaschistischen Gruppe als Widerstand wahrgenommen.

Mark Roseman: »Du bist nicht ganz verlassen.« Eine Geschichte von Rettung und Widerstand im Nationalsozialismus. DVA, 448 S., geb., 25 €.

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