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Unvollkommen, unverzichtbar

Die Vereinten Nationen werden 75 Jahre alt - kritische Glückwünsche.

  • Norman Paech
  • Lesedauer: 7 Min.

Am 26. Juni 1945 wurde in San Francisco die UNO-Charta unterzeichnet - von den vier Großmächten USA, UdSSR, Volksrepublik China und England sowie den Staaten der Anti-Hitler-Koalition, insgesamt 50.

So kurz nach dem großen Krieg war das nur möglich, weil US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill sich schon 1941 auf Neufundland getroffen hatten, um über eine neue Friedensordnung nach dem sich als sicher abzeichnenden Sieg über Nazi-Deutschland zu beraten. Der Völkerbund war schon lange politisch tot, bestand aber formal weiter - und Churchill sah in ihm trotz seines offenkundigen Scheiterns ein Vorbild für eine neue effektive Friedensorganisation.

Zur Person

Norman Paech, Jahrgang 1938, ist emeritierter Hochschullehrer für Verfassungs- und Völkerrecht. Er ist Mitglied der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ). Von 2005 bis 2009 war er Bundestagsmitglied für die Linkspartei.

Zuletzt erschien von ihm das Buch »Menschenrechte: Geschichte und Gegenwart – Anspruch und Realität« im Papyrossa-Verlag, 221 S., br., 16,90 €.

Roosevelt wollte hingegen eine Zweierallianz mit den Briten und lehnte es zunächst rundweg ab, die Staaten, die mit den Nazis kollaboriert hatten oder nicht in der Lage gewesen waren, sich diesen entgegenzustellen, an künftigen Entscheidungen über den Weltfrieden zu beteiligen. Zudem wollte er die Neuordnung des Rohstoffmarktes auf der Basis einer Freiheit des Welthandels regeln. In der gemeinsamen Abschlusserklärung vom 14. August 1941, die als Atlantik-Charta in die Annalen einging, konnte sich Roosevelt durchsetzen.

Als jedoch die USA von Japan in Pearl Harbour überfallen wurden, waren sie zu einer Erweiterung jener Zweierallianz bereit. Gemeinsam entwarfen Churchill und Roosevelt am 1. Januar 1942 eine »Erklärung der Vereinten Nationen«. Und bei einem anschließenden Besuch des sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow in Washington sagte Roosevelt auch zu, die UdSSR und China aufzunehmen. Nur gegen Frankreich hatte er wegen der Kollaboration der Vichy-Regierung weiterhin starke Vorbehalte. Die Vorgeschichte der UN blieb ein mühseliger Prozess des Aushandelns.

Auf der Gipfelkonferenz von Jalta im Februar 1945 war China noch nicht vertreten, und die drei Großmächte konnten sich in Kernpunkten einigen. Insbesondere bekam der Moskauer Regierende Josef Stalin das uneingeschränkte Veto bei der Abstimmung im Sicherheitsrat zugesagt, was für ihn von größter Bedeutung war. Churchill hat in seinen Memoiren über die Gründe berichtet: »Stalin erklärte, die drei Großmächte seien zwar heute verbündet und keine von ihnen werde Angriffsakte begehen, er befürchte jedoch, die heutigen Führer würden im Laufe der nächsten zehn Jahre verschwinden, und eine neue Generation werde an die Macht kommen, die nicht mehr aus persönlichem Erleben wisse, was wir in diesem Krieg durchgemacht hätten (...). Es muss ein System ausgearbeitet werden, das Konflikte unter den führenden Großmächten verhindert.« So wurde das Vetorecht vier Monate später in San Francisco in der UN-Charta verankert - bei aller späteren Kritik an einer häufigen Lähmung des Sicherheitsrats bleibt das eine hellsichtige Entscheidung.

Die Charta trat am 24. Oktober 1945 in Kraft. Die UN waren nicht die einzige internationale Organisation jener Jahre, die vor allem auf Initiative der USA beruhten: die Institutionen der Bretton-Woods-Konferenz 1944, IWF und Weltbank, bis zum General Agreement on Trade and Tariffs (GATT) 1947. Sie waren vor allem als Instrumente des »freien Westen« konzipiert, dessen Dominanz gesichert werden sollte.

Das aber bedeutete vor allem die Sicherung des Hegemonieanspruchs der USA. Es sei an der Zeit, schrieb Henry R. Luce, der republikanische Verleger von »Time« und »Life«, schon 1941, »ernsthaft unsere Aufgabe und unsere Chance als mächtigste und vitalste Nation in der Welt wahrzunehmen und daher in dieser Welt unseren uneingeschränkten Einfluss geltend zu machen, und zwar für Zwecke, die wir für richtig halten, und durch Mittel, die wir für richtig halten.«

Das war keine Einzelstimme. Harry S. Truman, der nach dem Tod Roosevelts im April 1945 die US-Präsidentschaft übernommen hatte, folgte diesem Pfad. Dessen Außenminister James F. Byrnes formulierte es dann nur etwas anders: »Was wir tun müssen, ist, nicht die Welt für die Demokratie, sondern für die USA sicher zu machen.«

Dieser Grundsatz steht bis heute. Er bedeutet auch den Ausbau eines gigantischen Militärapparats mit exorbitanten Rüstungshaushalten, die unbedingte Bereitschaft zur Intervention in schwächere Länder, die nicht die Interessen der USA vorrangig bedienten, und die vollständige Unterordnung des Völkerrechts unter diese Interessen.

Dass es bisher nicht zu einer militärischen Konfrontation zwischen den größten Mächten gekommen ist, wird oft dem atomaren Patt zugeschrieben. Wie wären allerdings die letzten 75 Jahre verlaufen, wenn es kein Veto im Sicherheitsrat gegeben hätte? Schon im März 1946 hatte Churchill in Anwesenheit von Truman seine berüchtigte »Eiserner Vorhang«-Rede gehalten und eine Bedrohung aus dem Osten durch »zwei finstere Marodeure - Krieg und Tyrannei« beschworen. Obwohl mit Truman bereits unmittelbar nach dem Weltkrieg der »Kalte Krieg« in die Arena der »Vereinten Nationen« eingezogen war, stimmten er und Churchill den Zielen der Vereinten Nationen in Artikel 1 der UN-Charta zu: Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen, Achtung und Wahrung der Menschenrechte und die Lösung internationaler Probleme auf der Basis von Zusammenarbeit.

Zudem wurden in Artikel 2 völkerrechtliche Prinzipien formuliert, die nach dem Zweiten Weltkrieg den wohl bedeutendsten Beitrag zum Völkerrecht darstellen: der Verzicht auf Androhung und Ausübung von Gewalt, die Unabhängigkeit und souveräne Gleichheit der Staaten, die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, die friedliche Konfliktbeilegung zwischen Staaten - sowie die Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten.

Letzteres Prinzip erfuhr indes nach der Jahrtausendwende eine gewisse Modifikation, wenn auch nicht auf der Ebene der UN-Charta: Nach dem Genozid in Ruanda und den umstrittenen Bürger- und Interventionskriegen im früheren Jugoslawien wurde das Prinzip der »Schutzverantwortung« entwickelt und 2006 erstmals in einem UN-Dokument - der Resolution 1674 des Sicherheitsrates - erwähnt.

Dabei geht es um eine staatliche Pflicht zur Verhinderung oder Beendung systematischer Menschenrechtsverletzungen innerhalb einzelner Staaten. Vorgesehen sind Maßnahmen von Wirtschaftssanktionen bis zu militärischen Mitteln. So wünschenswert das einerseits ist, so offensichtlich entsteht dabei auch ein Einfalltor in das Souveränitätsprinzip, das zumindest potenziell politisch instrumentalisiert werden kann. Unverändert aber ist jegliche Intervention auch auf Basis der »Schutzverantwortung« völkerrechtswidrig, wenn sie ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates erfolgt.

Auch in der UN-Charta geht es freilich schon immer um mehr als nur die Abwehr und Verhinderung von Krieg, also den sogenannten negativen Frieden. Im Kapitel über »Internationale Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet« formuliert die Charta auch Aufgaben der UNO zur Verbesserung des Lebensstandards, Förderung der Vollbeschäftigung und zur Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, gesundheitlicher und kultureller Art. Auch die Menschenrechte, die in der Charta sonst keine weitere Erwähnung finden, müssen geachtet werden (Artikel 55 d). Alles das, was sich politologisch als »positiver Frieden« fassen lässt, sollte also gleichfalls zu den Aufgaben der UN gehören.

Dazu bedarf es einer starken Organisation mit gesicherten Finanzen. Doch derzeit spricht UN-Generalsekretär Antonio Guterres von der »schlimmsten Geldkrise seit fast einem Jahrzehnt«. Die UN finanziert sich über die Beiträge ihrer Mitgliedsstaaten entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft. So bestreitet der größte Geldgeber, die USA, 22 Prozent des Budgets, die Bundesrepublik als drittgrößter Beitragszahler acht Prozent. Doch aktuell schulden die USA über eine Milliarde US-Dollar auch für vergangene Jahre, was bei einem jährlichen Haushalt von 3,3 Milliarden Dollar für 2019 lähmend wirkt. Das soll es auch, denn Trump setzt den Geldhebel gezielt ein, um seine US-Interessen, die er generell für übergangen hält, stärker durchzusetzen. Es gibt immer säumige Zahler, deren Ausfall aber zu kompensieren ist, und die auch schon von früheren US-Administrationen ausgesprochene Drohung, eine UN-Organisation zu verlassen, ist zwar lästig aber zu überwinden. Fehlendes Geld jedoch macht gefügig.

Die meisten der UN-Aktivitäten funktionieren geräuschlos und ohne größere Konflikte. Nur bei der Erfüllung der zentralen Aufgabe, der Friedenssicherung, scheitert die UN immer wieder. Ihre Unfähigkeit, die Kriegsgefahr in der Welt zu bannen und den Frieden zu garantieren, wird oft vor allem ihrer fehlenden Durchsetzungsfähigkeit angelastet. Kern der Kritik und der wiederholten Forderungen nach Reform ist das Vetorecht, das die Handlungsfähigkeit lähme.

Sicher ist aber auch in Zukunft: Keine Macht wird auf ihr Veto verzichten oder bereit sein, es anderen Staaten zuzugestehen. Alles ist reformierbar, aber die Grundentscheidung aus dem Jahre 1945 solange nicht, wie sich die Machtkonstellation nicht ändert. Gerade in der Zeit wieder zunehmender Großmachtkonfrontation sollte die gewalthemmende Funktion des Vetos im großen Maßstab nicht gering geschätzt werden.

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