Armut nicht nur bunter machen

Bafta Sarbo über die Realität des Rassismus, Hautfarben und bürgerliche Anti-Diskriminierungspolitik

Derzeit wird viel über Rassismus debattiert und was gegen ihn getan werden kann. Nochmal zum Ausgangspunkt: Gibt es Menschenrassen?

Bei Menschen existieren Unterschiede der Körpermerkmale, aber keine Rassen, das ist wissenschaftlich nachgewiesen. Was es gibt, das sind soziale Rassen, und die werden dann häufig naturalisiert. Das heißt, soziale Merkmale von Menschen werden auf biologische Merkmale zurückgeführt.

Zur Person
Bafta Sarbo ist Sozialwissenschaftlerin in Berlin. Sie ist im Vorstand der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD). Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung leitet sie Lesekurse zum Marx’schen »Kapital«. Mit Stephan Kaufmann sprach sie darüber, was »Rassen« sind, wie Rassismus zum Kapitalismus passt und warum er trotz aller offiziellen Verurteilungen nicht verschwinden will.

Dennoch gibt es irgendwo auf der Welt immer einen Wissenschaftler, der untersucht, ob sich die Menschheit nicht doch in Rassen einteilen lässt. Und viele Menschen glauben daran.

Und wenn es Rassen gäbe? Was hätte man mit dieser Erkenntnis gewonnen? Letztlich ist immer die Frage, worauf jemand mit dieser Suche nach Rassen hinaus will. Meistens geht es wohl genau um die Naturalisierung von gesellschaftlichen Zuständen nach dem Muster: Sind die Schwarzen nicht doch irgendwie anders und daher selbst schuld an ihrer Armut?

Das ähnelt der Suche nach dem »Erfolgs-Gen«, also nach einer physiologischen Anlage, die beruflichen Erfolg und Misserfolg erklärt.

Derartige Erklärungsversuche gibt es auch bei den Geschlechtern – Frauen sind empathischer, Männer dagegen ehrgeiziger, weswegen sie mehr verdienen. Oder bei der Religion – Thilo Sarrazin hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, warum Muslime dümmer seien und daher ärmer. Oder bei Nationen – Stichwort »faule Griechen«. Man sieht: Rassismus ist nicht unbedingt eine Frage körperlicher Merkmale. Er braucht keine unterschiedlichen Hautfarben. Es gab Zeiten, da galten die armen irischen Einwanderer in den USA als »weiße N****«. Den offiziellen Status als »Weiße« bekamen sie erst später. Rassen gibt es nicht, sie werden konstruiert.

In den USA wird beim Mikrozensus die »race« abgefragt. Dabei soll es sich allerdings nicht um ein biologisches Merkmal handeln, sondern die Befragten dürfen ihre »race« selbst wählen. Es ist also eine Selbsteinordnung. Ist das nicht ein Widerspruch – einerseits wird sich auf die Existenz von »races« bezogen, andererseits soll die Zugehörigkeit frei gewählt sein?

Das ist der Versuch eines Kompromisses: Der Mikrozensus ist ein Instrument zur Förderung sozial benachteiligter Gruppen und die sortieren sich in den USA stark entlang der »races« - Schwarze sind zum Beispiel überproportional arm. Die Einteilung in »races« ist daher ein Weg, wie Ressourcen verteilt werden. So muss zum Beispiel ein bestimmter Prozentsatz von Studierenden eines Jahrgangs schwarz sein. Wer sich selbst als »black« einsortiert, könnte demnach bessere Chancen auf einen Studienplatz haben.

Macht die soziale Definition von Rasse Sinn?

Einerseits ja. Denn in den USA ist die Klassengesellschaft extrem rassifiziert, die Förderung von Armen daher weitgehend identisch mit der Förderung der Schwarzen. Andererseits handelt es sich bei der Sortierung von »races« aber um eine verzerrte Darstellung sozialer Verhältnisse. Es geht ja um Armut, nicht um Rassen. Der US-Mikrozensuns ist daher widersprüchlich: Er unterstellt die Kategorie der Rasse, will diese aber dann doch nicht gelten lassen. Einerseits sollen Gesetze die Benachteiligung einzelner »races« aufheben, gleichzeitig reproduzieren sie dabei aber immer diese Kategorien. Wobei man allerdings sagen muss, dass in den USA »race« weniger biologisch und mehr kulturell bestimmt ist als die deutsche Kategorie »Rasse«.

Ein ähnlicher Widerspruch wie in den USA spiegelt sich auch im deutschen Grundgesetz. Laut Artikel 3 darf niemand wegen seiner Rasse benachteiligt oder bevorzugt werden. Auch da wird eine ethnische Identität unterstellt, aus ihr soll aber gleichzeitig nichts folgen. Sollte man den Begriff »Rasse« aus dem Grundgesetz streichen?

Auch hier: Einerseits ja, denn es gibt keine Rassen. Andererseits ist die Befürchtung, dass wenn man den Begriff »Rasse« streicht, rassistische Diskriminierung nicht mehr sichtbar machen kann.

Wie löst man das Problem?

Man könnte die Formulierung ändern in »Niemand darf aus rassistischen Gründen benachteiligt werden«. Damit wäre der Rassismus benannt, ohne die Existenz von Rassen zu unterstellen. Aber das ist sehr umstritten, vor allem juristisch gesehen.

Was ist Rassismus? Eine Geisteshaltung von Individuen oder ein sozialer Fakt? Oder beides?

Gängige Annahme ist, Rassismus sei ein falsches Vorurteil, das zu korrigieren wäre. Ich würde eher sagen, dass Rassismus ein soziales Verhältnis ist, das sich in – gar nicht so – individuellen Einstellungen widerspiegelt. Denn die sozialen Unterschiede, die über Rassismus gerechtfertigt werden, existieren wirklich. Gleichzeitig werden diese Unterschiede über Rassismus hergestellt.

Was heißt das?

In der Frühzeit des Kapitalismus zum Beispiel wurde die Kolonisierung von Ländern und die Versklavung von Menschen legitimiert mit rassistischen Urteilen, gemäß denen dies der natürlichen Ordnung entspreche. Das ist quasi die rassistische Ideologie. Die rassistische Praxis wiederum bestand in der Nutzung dieser Länder und ihrer Bevölkerungen als Ressource für den Wohlstand der Kolonialmächte. Anderes Beispiel: Die Anwerbung von Gastarbeitern in den fünfziger und sechziger Jahren versorgte das deutsche Kapital mit billiger Arbeitskraft, die überausgebeutet werden konnte. Dies wurde wiederum legitimiert durch rassistische oder kulturalistische Ideologie. Heute sehen wir rassistische Einstellung gegenüber rumänischen oder polnischen Saisonarbeitern.

Dies wird aber eher unter der Kategorie »Ausländerfeindschaft« thematisiert, nicht unter Rassismus...

Weil der vorherrschende Rassismus-Begriff sehr verengt ist und sich auf Hautfarben bezieht. Hier findet wieder die Verkehrung statt: Es wird davon ausgegangen, dass es körperliche Unterschiede braucht, die dann die Ursache für Rassismus sind. Und nicht umgekehrt: dass es soziale Unterschiede sind, die dann über Zufälligkeiten wie Hautfarbe erklärt werden oder über »Ethnie« - ein Begriff, der es erlaubt, weiterhin über Rassen sprechen zu können, ohne »Rasse« sagen zu müssen. Im Prinzip ist es für Rassismus aber gleichgültig, welches Merkmal zur Unterscheidung der Menschen herangezogen wird. Das wechselt, je nach sozialem Verhältnis, das hergestellt oder legitimiert werden soll – mal mit »faulen Schwarzen«, dann mit »faulen Griechen« oder »faulen Muslimen«, und die Klage über »faule Ostdeutsche« gab es auch schon. Es ist bemerkenswert, wie sehr der Diskurs über die »Jammer-Ossis« in den frühen neunziger Jahren den heutigen rassistischen Diskursen ähnelt.

Ist Rassismus also kein falsches Vorurteil?

Rassismus ist zwar falsch, aber im Rassismus taucht eine soziale Realität auf, sonst könnte er gar nicht so dauerhaft existieren. Und diese soziale Realität müsste man bekämpfen. Natürlich ist es rassistisch, zu sagen »Alle Schwarzen dealen mit Drogen«. Es ist aber auch wahr, dass überproportional viele schwarze Menschen dazu gezwungen sind, mit Drogenverkauf ihr Geld zu verdienen, weil sie arm und illegalisiert sind und auf dem normalen Arbeitsmarkt nicht vermittelbar sind.

Vielfach wird »racial profiling« kritisiert und die Tatsache, dass dunkelhäutige Menschen öfter von der Polizei kontrolliert werden. Dabei könnte man doch argumentieren: Da Schwarze häufiger arm sind, sind sie häufiger kriminell und daher macht racial profiling Sinn.

Das stimmt zwar. Aber der Fehler ist, die soziale Realität mit der Hautfarbe zu erklären und eben nicht mit den sozialen Verhältnissen, die Menschen in Armut zwingen.

Marie Hecht stellt in einem Audiobeitrag für ndAktuell die Frage, was Black Lives Matter in Deutschland bedeutet.

Als Barack Obama US-Präsident war, nannte er den Rassismus »ein Erbe« der Rassendiskriminierung. Auch andere Politiker bezeichnen Rassismus im allgemeinen als etwas überkommenes, archaisches, als etwas, das nicht zur heutigen Gesellschaft passt. Als etwas eigentlich systemwidriges. Linke dagegen nennen Rassismus häufig »systemisch«, ohne genau zu sagen, was das heißen soll. Wenn man ein »System« als einen Funktionszusammenhang definiert – welche Funktion hat dann der Rassismus heute?

Erstens ist Rassismus ökonomisch funktional. Denn die Unternehmen brauchen gerade in einem Land wie Deutschland mit relativ starken Arbeitnehmerrechten einen gewissen Anteil an Menschen mit schwächeren Rechten, die weniger Lohn erhalten als üblich. Man kann nicht alle Produktion in Billiglohnländer auslagern. Amazon hat daher in Deutschland einen eigenen Standort, der Menschen beschäftigt, die nicht deutsch sprechen. Amazon-Chef Jeff Bezos kann öffentlich sich gegen Rassismus stellen und gleichzeitig Migranten schlecht bezahlen. Die Fleischindustrie in Deutschland lebt von Lohnabhängigen, die unter furchtbaren Bedingungen arbeiten. In den USA ist die Sklaverei zwar abgeschafft. Aber gleichzeitig arbeiten heute in den US-Gefängnissen mehr inhaftierte Menschen für Hungerlöhne, als vor der Abschaffung der Sklaverei versklavt waren.

Und zweitens?

Neben der sozialen Realität des Rassismus ist er eine Legitimations-Ideologie. Die negativen Ergebnisse der kapitalistischen Konkurrenz – Armut, Kriminalität – werden erklärt, indem man sie individualisiert und naturalisiert. Dann ist nicht mehr das System schuld, sondern der Mensch und seine »natürlichen« Anlagen, die ihn leistungsschwach machen. Rassismus ist sozial befriedend.

Allerdings kritisieren Unternehmer und Ökonomen den Rassismus. Der US-Zentralbanker Robert Kaplan nannte ihn kürzlich ein »Hindernis für die Produktivität«, der die USA Wirtschaftswachstum koste. Dahinter steht die Idee, Rassismus behindere den Wettbewerb, ein freier Arbeitsmarkt und gleiche Konkurrenzbedingungen - »Chancengleichheit« - für alle Arbeitnehmer führe ökonomisch zu effizienteren Ergebnissen. Rassismus ist in dieser Optik eine Wertschöpfungsbremse für das Kapital.

Einerseits will das Kapital den freien Arbeitsmarkt. Andererseits bietet der Rassismus auch die Möglichkeit, Kämpfe und Rechte der Lohnabhängigen zu unterwandern. Wenn man es von der Arbeitnehmerseite aus sieht: Rassismus erschwert Organisation und gemeinsame Kämpfe, er spaltet. Das bemerkte schon Karl Marx, als er erklärte, warum in den USA die Kämpfe um den Normalarbeitstag weitgehend scheiterten. Dies lag laut Marx daran, dass die Arbeiter nicht erkannt hatten, dass die Sklaven auch Arbeiter sind. »Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird.«

Sprechen wir kurz über Lösungsansätze. Vielfach wird gesagt, es brauche mehr Information und Öffentlichkeit über Rassismus in Deutschland…

Das ist sicherlich gut und nötig. Aber ich glaube nicht, dass Mangel an Informationen die Ursache von Rassismus ist.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte kürzlich, sie sei »froh und dankbar, in einer Gesellschaft zu leben, die Rassismus verurteilt«. Ihr gehe es »um ein Europa mit mehr Gleichberechtigung«. Wäre Gleichberechtigung die Lösung?

Einerseits ist sie natürlich erstrebenswert. Andererseits: Wenn man feststellt, dass schwarze Menschen überproportional arm sind und dann Gleichstellung fordert, dann fordert man lediglich eine andere Zusammensetzung der Armut. Gleichstellung oder Chancengleichheit machen die Armut vielleicht »bunter«, aber sie bleibt erhalten. Die materielle Ungleichheit nur proportional nach Hautfarben zu verteilen, ist mir zu wenig. Das ist das eine. Das andere: Die meisten Schwarzen in den USA zum Beispiel sind nicht arm, weil sie diskriminiert werden. Sondern weil sie in armen Familien aufwachsen, schlechtere Ausbildung haben, in armen Vierteln wohnen und so weiter. Ihnen nützt Anti-Diskriminierung nichts, denn sie kommen nie in die Verlegenheit, mit Weißen auf Augenhöhe um die guten Jobs zu konkurrieren. Armut vererbt sich, auch in Deutschland, auch unter Chancengleichheit.

Aber es ist doch Fakt, dass Vermieter oder Unternehmen die Bewerber für Wohnungen oder Jobs rassistisch sortieren.

Natürlich, und das ist zu kritisieren. Ich würde aber einen Schritt weitergehen und fragen: Wieso gibt es eigentlich Personen, deren Ideologie darüber entscheidet, ob man wohnen oder arbeiten darf? Wieso gibt es Menschen, die auf Grund ihres Eigentums die gesellschaftliche Macht besitzen, Menschen Ressourcen zuzuteilen und dabei ihren Rassismus auszuleben? Stokeley Carmichael hat mal gesagt: »Wenn ein weißer Mann mich lynchen will, ist das sein Problem. Wenn er die Macht dazu hat, ist das mein Problem.« Rassismus ist eine Machtfrage.

Aber die Diskussion um das Wirtschaftssystem und die Eigentumsverhältnisse hat doch mit Rassismus nur am Rande zu tun. Sprich: Aus Antirassismus folgt nicht automatisch Antikapitalismus und umgekehrt.

Offensichtlich ist das kein Automatismus. Aber wenn man den Rassismus materialistisch erklärt, dann denke ich, kann daraus nur folgen, die Produktionsverhältnisse zu ändern. Sicher, damit würde der Rassismus nicht automatisch abgeschafft. Aber ohne die Überwindung kapitalistischer Produktions- und Konkurrenzverhältnisse bleibt auch der Rassismus erhalten. Denn in diesen Verhältnissen hat er heute sein Zuhause. Daher müsste ein konsequent zu Ende gedachter Antirassismus statt auf Gleichstellung innerhalb bestehender Verhältnisse, auf gesellschaftliche Veränderung abzielen. James Baldwin stellte in den sechziger Jahren die rhetorische Frage: »Will ich wirklich in ein brennendes Haus integriert werden?«

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