Ein Kessel Deutsches

In Stuttgart ist die Mehrheitsgesellschaft unfähig, die eigene Bigotterie wahrzunehmen.

  • Elena Wolf
  • Lesedauer: 6 Min.

Stuttgart war überfällig. Wie die zum Bersten aufgeblähte Veschbertüte nebst einem verrotteten, ja schon gemosteten Apfel in einem »Scout«-Schulranzen in einem Stuttgarter Vorort. Erst nachdem der Geruch der wochenlang vor sich hin modernden Lyoner das dünne Plastik durchdrungen und der austretende Saft des Apfels mit den Schulbüchern fusioniert hatte, wurde die tickende Bombe im Kinderzimmer entdeckt, was ungläubiges Elterngebrüll zur Folge hatte und wahrscheinlich eine Woche Fernsehverbot oder Taschengeldentzug. So genau weiß ich das nicht mehr. Was ich aber noch weiß, ist der Gesichtsausdruck meines Vaters, der zwischen Hilflosigkeit und Wut oszillierte. Nach zahlreichen Verquickungen anderer Wurst-Case-Szenarien saß ich eines Tages vor der Kinderpsychologin. Als die aber gleich bei der ersten Intervention wider Erwarten meine Eltern in den Fokus nahm und etwas von »Familienstrukturen« faselte, sind wir nie wieder hin. Wäre ja noch schöner, wenn man sich mit sich selbst auseinandersetzen müsste!

Hier in Stuttgart geht’s uns einfach gut! Zu gut. So gut, dass die wenigsten Leute auf Facebook, in der Kneipe um die Ecke und in der Bürokantine die Krawallnacht vom vergangenen Samstag und das, was jetzt auf politischer und medialer Ebene abgeht, verstehen wollen. Denn das würde ja bedeuten, sich kritisch mit sich selbst, seinen Privilegien und Denkschablonen auseinanderzusetzen. Und eigentlich weiß man ja eh schon seit Tagen, wer da ausgeflippt ist: Kanaken. Also »12 Ausländer, 9 Deutsche, 3 Deutsche mit Migrationshintergrund«. Das ist die Rechnung der »Bild-Zeitung« zum Exzess in der »Nacht der Schande«.

Und sie bestätigt die Ressentiments frustrierter Bio-Deutscher, die schon lange den Verdacht hegen, dass in Polizeiberichten oft von »deutschen Tätern« berichtet wird, die ja aber eigentlich gar keine wirklichen Deutschen sind. Die lauten Rufe wurden von der »Bild«-Zeitung erhört: Ab jetzt gibt es neben »Deutschen« und »Ausländern« eine weitere Nationalität: den »Deutschen mit Migrationshintergrund«. Wo kommen wir denn da hin, wenn man nicht fragen darf, wo die Oma eines Stuttgarters herkam, der mit einem Pflasterstein ein Schaufenster einwirft!

In Stuttgart darf man sich nicht unwohl fühlen. Besonders nicht als Ausländer oder Deutscher mit Migrationshintergrund. Schiller, Daimler, Hegel: Das ischt hier die Regel. So stolz ist man hier auf Genie und Status, dass die Stadt vergessen hat, auf wessen Rücken sie zu Reichtum gekommen ist: dem von Tausenden »Gastarbeiter*Innen« in den pumpenden Fabriken des rauchenden Kessels. Den Hegel und den Schiller bedienen die Daimlers und Porsches hier maximal in repräsentativen Reden oder stellen »Feel Good Manager« mit Philosophie-Magister und Mini-Gong an, um für gute Vibes im Office zu sorgen. Dabei prangt auf dem ausgeweideten Stuttgarter Hauptbahnhof bis heute ein Zitat von Hegel, das spätestens seit Samstag wahr ist: »Dass die Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist…« steht da, um die Stuttgarter*Innen stets daran zu erinnern, was für ein mutiges und denkendes Völkchen sie sind.

Und manchmal auch ein »querdenkendes«, wie neulich bei den »Querdenken«-Demonstrationen auf dem Cannstatter Wasen, dem Schauplatz alljährlicher Bierfestspiele mit deutschen Griffeln auf vollgekotzten Dirndl-Titten und deutscher Pisse auf Krachledernen. Ausländer ohne Tourismushintergrund sieht man kaum im Bierzelt. Die chillen vorm Boxautostand und versuchen, kichernde Mädchen zu beeindrucken. Und wenn nicht Wasen ist, werden sie im Schlosspark von Polizisten routinekontrolliert. Ganz normal halt. Schon immer. Seit sie in die Schule gehen und im Gegensatz zum Stuttgarter Hänsle Wurscht in einer Realität aufwachsen, in der es normal ist, ständig unter dem Verdacht zu stehen, aufgeblähte Veschbertüten und gemostete Äpfel in der Bauchtasche zu verstecken. Scheiße gebaut zu haben.

Und wenn sie dann tatsächlich ein paar Krümel Dope in der Hosentasche verstecken, hat die Polizei recht gehabt. Kanaken halt. War ja klar. War auch der Stuttgarter Polizei offenbar klar: Jetzt soll eine Audiodatei aus dieser Nacht aufgetaucht sein, in der ein mutmaßlicher Polizist feststellt, wer hier gerade am Rad dreht: »Alles Kanaken«. Die Ermittlungen in den eigenen Kreisen laufen. Polizisten, die unter Polizisten wegen Rassismus ermitteln, sind wie Päpste, die unter Priestern wegen Kindesmissbrauchs ermitteln: Heuchler vor dem Herrn. Aber alles ganz arg schlimm. Also das mit der Gewalt außerhalb der Polizei.

Den goldenen Polizeiknüppel im Wettstreit um die servilste Betroffenheitsbekundung gewinnt die CDU-Fraktion im Stuttgarter Gemeinderat: Die reichte jetzt einen Antrag ein, in dem sie den Oberbürgermeister darum bittet, »möglichst kurzfristig ein Transparent am Rathaus mit einer Solidaritätsbekundung für unsere Polizistinnen und Polizisten anzubringen«. Konkrete Ideen zum Wording haben die Christdemokraten auch schon: »Wir können uns hier eine Aussage wie ›Wir sind Polizei‹ [...] gut vorstellen.« Jesus Christus, bitte, lass es Satire sein! Seit dem marienhaft verehrten Regenten Manfred Rommel (CDU) sei Stuttgart »eine Stadt der Liberalität, der Toleranz und des wechselseitigen Respekts [...] in der eine Vielzahl von Menschen aus aller Welt zusammen leben«, und man wolle sich jetzt mit »aller Entschlossenheit« dafür einsetzen, dass das auch in Zukunft so bleibe. »Bis zur letzten Patrone!«

Das hat die CDU in Stuttgart zwar nicht geschrieben in ihrem Antrag. Das hat Horst Seehofer (CSU) in Bezug auf die »Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme« mal gesagt. Doch genau solche Widersprüche beschreiben das Verhältnis der sogenannten Mitte Deutschlands zu Migrant*innen: Es gibt nützliche Ausländer und es gibt Kanaken. Nützliche Ausländer sind zum Beispiel Leute wie Cem Özdemir (Grüne): hyperassimilierte Deutsche mit Migrationshintergrund, denen durch die totale Verkartoffelung und intravenös verabreichte »Deutsche Werte« auch schon mal ein »Maul halden, mir sin’ hier in Deutschland« entfährt, wenn sie bei einem Betroffenheitsinterview in der Stuttgarter Königstraße von einem Typen mit gebrochenem Deutsch gestört werden.

Da sitzen sie dann bräsig und satt vor ihren Glotzen zuhause und lachen in ihre Trollinger, wenn der Özdemir so etwas sagt. Und wenn DER das sagt, dann kann es ja nicht ausländerfeindlich sein! Das ist dieselbe Logik, der die Empörung folgt, wenn Lesben für die AfD im Bundestag sitzen. Überraschung, Hans Wurst: Auch Leute, die »Özdemir« heißen, können Deutsche sein. Und Lesben rassistische Zippen.

Dabei gibt es gerade jetzt viele Menschen, die besser ihr »Maul halden« sollten. Zum Beispiel weil sie null an Ursachenforschung interessiert sind, sondern Stuttgart für den Wahlkampf und eine repressive Politik missbrauchen. Stuttgart ist der Brühwürfel in der Kartoffelsuppe Deutschlands: Gepresste Scheiße in bunter Verpackung. Nicht wegen den Ausschreitungen. Sondern wegen des Unvermögens der dortigen Mehrheitsgesellschaft, die eigene Bigotterie wahrzunehmen. Schluss mit Projektion und Problemverschiebung. Schluss mit der Furcht zu irren. Auch wenn’s weh tut. Ran an die eigenen Irrtümer.

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