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Pandämonium linguistischen Grauens
In dem Opus magnum »Die Sprache der Einheit« werden die fatalen Folgen des westdeutschen Sonderwegs untersucht
Dass dunkel ist »der Rede Sinn«, stellt nicht erst seit Schillers geflügelter Wortschöpfung ein ernstes Erschwernis zwischenmenschlicher Kommunikation dar. So bedachte der römische Philosoph Cicero seinen griechischen Kollegen Heraklit mit dem Beinamen »Der Dunkle«, weil dessen in ionischem Griechisch verfasstes Werk von Mehrdeutigkeit, Doppelbödigkeit und Vielsinn durchsättigt ist.
Hierzulande bedarf es indes nicht des Rückgriffs auf altgriechische Dialekte, um Sinn und Inhalt von Wörtern und Sätzen zu verdunkeln. Es genügt die in Jahrzehnten kultureller Abgrenzung entstandene Sonderform des Westdeutschen. »Linguistische Analysen lassen zwar keinen Zweifel daran, daß das Westdeutsche zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehört«, schreibt der Historiker und Philosoph Jürgen Große. »Dennoch weist dieses Idiom zahlreiche Eigenarten auf, die kaum ein rasches Erlernen, sondern eher resigniertes Nachsprechen begünstigen. So zumindest haben es Hochdeutschsprachige in Dessau, Berlin oder der Uckermark seit dem Anschluß vieltausendfach gehalten.«
Diesem deutsch-deutschen Dilemma abzuhelfen, existiert kaum Besseres als Jürgen Großes pünktlich zum Jubeljahr auf den Buchmarkt geworfenes Werk »Die Sprache der Einheit«, dessen Untertitel »Ein Fremdwörterbuch« die Größe des vom Verfasser Geleisteten mit Bescheidenheit umhüllt. Geht es doch dabei um nichts Geringeres, als im 30. Jahr der Einheit selbiger auch auf sprachlichem Terrain endlich einen fruchtbaren Boden zu bereiten.
Große hat bei seinen Forschungen über die jüngere Geistesgeschichte Europas zum Schwerpunkt »Sonderwege und Sackgassen« bereits in seinem Essay-Band »Die Gnosis des Ostens« (2016) Maßstäbe gesetzt. Darin lässt sich der 1963 in Ost-Berlin geborene Autor im Unterschied zur gängigen Praxis nicht von prüfender Pädagogik für das demokratisch-korrekte Wahl- und Wohlverhalten in diesem geografisch-politischen Landstrich leiten. Ihm geht es um die stillen Weiher des Skeptizismus, die die abgeflossene Pseudoreligiosität der »Quasikirchlichkeit des Staatsmarxismus« hinterließ und deren Trockenlegung bislang vergeblich laboriert wurde. Diese »Gnosis« (griechisch: Wissen, Erkenntnis) bereitet der kapitalistisch verfassten Staatsdemokratie ähnliche Schwierigkeiten, wie es die gnostischen Sekten einst mit Blick auf das aufstrebende Christentum taten. »Die Gnosis des Ostens«, summiert der Autor, »mit ihrem freien Blick auf die Schicksale aller Ideen-Institutionen, ist historisch erzwungen; sie gibt den Ihren keinen Grund zu Hochmut oder Behagen.«
Mit anderen Worten: Ostdeutsche sind ideologischen Verkündigungen, Verheißungen, Verordnungen gegenüber vorsichtiger, misstrauischer, ablehnender als in ökonomischer Prosperität sozialisierte Westdeutsche, die sich aus dem Fundus religiöser wie säkularer Heilslehren frei bedienen oder das auch lassen konnten. (Letzteren fehle die Erfahrung einer staats- oder dogmengewollten Öffentlichkeit, »die man zwar meiden, aber nicht umdeuten kann«, meint Große.) Einem solchen stark entkirchlichten, weitgehend religionsfernen, hartnäckig ideologiekritischen Bevölkerungsteil neu aufgelegte Propagandaparolen zu oktroyieren, muss da zwangsläufig zum Desaster geraten.
Der 1989/90 erfolgte Zusammenprall einer Mehrheits- mit einer Minderheitsgesellschaft hat bis heute nicht zuletzt deshalb spürbare Spuren hinterlassen, weil beide Gesellschaften über Jahrzehnte auch sprachlich getrennte Wege gingen. »Offenkundig hatte 1949 mit dem staatlichen Sonderweg Westdeutschlands auch ein kultureller und vor allem sprachlicher begonnen, der am 3. Oktober 1990 keineswegs ausgeschritten war«, bemerkt Große. Denn: »Das Beharren auf der inzwischen entstandenen, vom hochdeutschen Standard abweichenden Ausdrucksweise war die erste und oft dauerhafte Reaktion.« Hinzu kommen die »schwierigen, teils schaurig klingenden Regionaldialekte«, die das Verstehen des Westdeutschen zusätzlich erschweren.
Große: »Während z. B. ein Sachse trotz heftiger Dialektrede fast immer die hochdeutsche Grammatik beherrscht, ist dies bei einem Bayern oder Schwaben weitaus seltener der Fall.« Sein niederschmetterndes Fazit: »Was nicht wenige ausländische Besucher kurz nach der deutschen Vereinigung registrierten, gilt auch heute noch: Das allgemeine Bildungsniveau, soweit am Sprachvermögen ablesbar, liegt in Westdeutschland unter jenem der traditionell hochdeutschsprachigen Gebiete. Modernes Westdeutsch umfaßt weniger Wörter und somit geistige Artikulationsmöglichkeiten als das Hochdeutsche. Dafür weist es mehr Schrumpf- und Fehlformen auf sowie - durch die im Westen strenger gegeneinander abgeschlossenen Milieus - mehr Sozialdialekte.« (Da Große die Rechtschreibreform als Versuch sieht, diese Defizite zu verschleiern, folgt er selbst der vor dieser Reform gültigen Schreibung.)
Was hier in einer launigen, intellektuell-ironischen Attitüde daherkommt, ist ein durchaus ernst zu nehmender Beitrag zur sprachlichen und damit politisch-gesellschaftlichen Gemengelage, die seit 30 Jahren das Leben in Deutschland bestimmt. Und so hat Jürgen Große ein sowohl physisch (zweieinhalb Pfund) wie inhaltlich schwergewichtiges Werk vorgelegt, in dem auf Hunderten Seiten Tausende Wörter und Wendungen erklärt, eingeordnet, analysiert, mit Rück-, Quer- und Kreuzverweisen versehen werden. Ohne Übertreibung lässt sich konstatieren, dass Große, der unter anderem Bücher über Friedrich Nietzsche und Emil Cioran schrieb, in siebenjähriger Arbeit ein Opus magnum schuf, dessen düstere Dimension der Dramatik des untersuchten Problems kongenial ist.
Finden ohne zu suchen, lautete das Motto des Autors bei der Beschaffung seiner Wortbeispiele: Werbesprache, Geistesbetriebsdeutsch aus Kulturkanälen, öffentliche Meinungs- und Bekenntnissprache, das heißt »Gedrucktes und Gesprochenes vornehmlich aus Qualitätszeitungen, das mit dem Anspruch von Kultur- und damit auch Sprachführerschaft vorgetragen wird«. Es ist schwer, aus der Fülle des wirkmächtigen Wahnsinns Einzelnes herauszugreifen. So finden wir hier neben den unvermeidlichen Achtundsechzigern das Bildungsangebot, die Debattenkultur, das Impulsreferat, den Lieblingsitaliener, den Netzwerker, den Opferdiskurs, den Qualitätsjournalismus, die Sachzwänge, das Wir-Gefühl. Es geht um: deutlich machen, einbringen, Zeichen setzen, Folgewirkungen, Vergangenheitsbewältigung, kulturelle Bereicherung, Paradigmenwechsel. Platz findet das Hallo als »sozialkretinöse Standardanrede« ebenso wie das »ganz ganz wichtig«, das »auf keinen Fall mit dem schlichten ›ganz wichtig‹ verwechselt werden« sollte.
Die Einordnung der Wortbeispiele erfolgt unter anderem in Bläh- und Spreizsprech, Jovialsprech, Denunziantendeutsch, Wächtersprech, Bekennersprech, Wichtigsprech. Auch die personelle Prägung durch herausragende Repräsentanten der westdeutschen Sprache findet Berücksichtigung in entsprechender Kategorisierung: Adornitisch, Habermasdeutsch, Mosebachdeutsch, Bittermanndeutsch ... Hilfreich ist zudem das Personenregister.
Nicht zu vergessen die Kuriosa wie Alex (»Von südwestdeutschen Zuwanderern gebrauchter Ausdruck nicht für den Berliner Alexanderplatz, sondern für den danebenstehenden Fernsehturm«) oder Frankfurter Straße (»Von westdeutschen Stadtplanern nach dem Anschluß verwendeter Name für die Berliner Karl-Marx-Allee«).
Kurzum: Ein Pandämonium des linguistischen Grauens ebenso wie ein Panorama der semantischen Hochstapelei. Jürgen Große hält sein im Vorwort gegebenes Versprechen: »An Absonderlichem und Befremdlichem wird kein Mangel sein.« Aber es geht ihm nicht um Hohn, Spott oder Überhebung. Denn »zur Herablassung, die nicht wenige linguistisch Bessergestellte gegenüber den Sondersprachlern mitunter zeigen, besteht kein Grund. Einzig durch Gnade der Geburt entgingen sie ja der verbalen Atrophie des Nachbarvolks.« Solidarität ist angesagt und das heißt: »Sanftmütiges, ständig wiederholtes korrektes Sprechen in die Ohren jener, die freilich am liebsten sich selbst hören und von sich selbst sprechen, werden der einzig gangbare Weg sein.«
Jürgen Große: Die Sprache der Einheit. Ein Fremdwörterbuch. Vergangenheitsverlag, 572 S., geb., 24,99 €.
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