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Vom »radikal Bösen«
David Roussets »KZ-Universum« ist nach über 70 Jahren nun auch auf Deutsch erschienen
Einer der wenigen Autoren, die bereits 1946 ihre KZ-Erfahrungen veröffentlichten, war der französische Trotzkist und Widerstandskämpfer David Rousset mit seinem »L’Univers Concentrationnaire«, »Das KZ-Universum«, das in Frankreich zum Klassiker wurde. Weshalb das Buch erst heute auf Deutsch erscheint, ist rätselhaft, denn die Zeit, wichtige Werke über den Nationalsozialismus in Deutschland zu verhindern oder zu ignorieren, schien eigentlich vorbei. Aber offenbar gab es dann doch Bedenken in den Verlagshäusern, die deutschen Leser mit dieser Form der Beschreibung des »radikal Bösen« zu konfrontieren, vermutlich weil es zu wenig »wissenschaftlich« war, zu lyrisch, zu subjektiv, zu französisch, zu drastisch. Was immer die Gründe letztlich waren, es ist auffällig, dass es gerade im Land der Täter über 70 Jahre dauerte, bis das Buch erscheinen konnte, während »L’Univers Concentrationnaire« sehr schnell in vielen Ländern herauskam, in denen die Nazis gewütet hatten.
In einem informativen Nachwort von Jeremy Adler erfährt man einiges mehr über den Autor, der in Frankreich neben Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Maurice Merleau-Ponty und Maurice Nadeau zu den großen Intellektuellen gehörte, der 1948 mit Sartre und Albert Camus eine Partei gründete, die sich allerdings nur wenige Monate später wieder auflöste, da sie bei den Wahlen keinen Erfolg hatte. Schließlich legte er sich noch mit der starken Kommunistischen Partei an, weil er die These vertrat, dass die deutschen und sowjetischen Lager sich nicht wesentlich unterschieden. Das schlug ziemlich hohe Wellen, und Rousset sah sich üblen Angriffen ausgesetzt, gegen die er sich mit einem Verleumdungsprozess zur Wehr setzte. Den gewann er ihn mit großer öffentlicher Resonanz, gleichzeitig aber isolierte ihn dies in der kommunistisch gesinnten intellektuellen Szene. Und auch wenn Sartre ihm in der Sache recht gab, ging dieser dennoch auf Distanz zu ihm.
Rousset, der im Oktober 1943 von der Gestapo verhaftet wurde, war unter anderem in Buchenwald und Neuengamme inhaftiert, wo das Programm der SS »Vernichtung durch Arbeit« hieß. Im April 1945 wurde er auf einen Todesmarsch geschickt, am 4. Mai befreit. Die Eindrücke diktierte er in nur drei Wochen seiner Frau, und sie wurden zunächst von einer Zeitschrift gedruckt, bevor sie als Buch erschienen. Hannah Arendt hat sich in ihrer Studie »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« darauf häufiger bezogen, nicht zuletzt deshalb, weil es Rousset in dem schmalen Bändchen gelungen war, seine Erfahrungen literarisch zu verarbeiten, nicht nur zu protokollieren, das Groteske und Kafkaeske hervorzuheben und deutlich zu machen, dass der einzige Sinn der Lager darin bestand, den Menschen die Menschlichkeit auszutreiben, sie zu reduzieren auf Triebbündel, auf bloß vegetative Wesen, die psychisch bereits tot waren, bevor sie auch physisch aus dem Leben geschafft wurden.
Davon zeugt eine kleine Episode, in der Rousset beschreibt, wie ein Kapo einen Laib Brot in eine Baracke rollen lässt, um sich darüber zu belustigen, wie die halb verhungerten Gestalten sich darauf stürzen und darum raufen. »Männer ohne jede Überzeugung, hart und ausgemergelt; Männer, deren Glauben zerstört, deren Würde vernichtet war; ein ganzes Volk von nackten, innerlich nackten, jeder Kultur und Zivilisation entblößten Menschen, mit Spitz- und Kreuzhacken, Hämmern und Schaufeln bewaffnet, an rostige Loren gekettet«, beschreibt Rousset seine albtraumhaften Eindrücke aus Buchenwald, in denen sofort das Besondere des KZ-Universums aufscheint, nämlich die Herabstufung des Menschen auf einen Sklaven, der nicht einmal am Leben erhalten werden muss, wie das in der Sklavenhaltergesellschaft noch der Fall gewesen ist.
Rousset schildert mit erschütternder Präzision das, was dabei herauskommt: ein Mensch, der im Lager »Muselmann« genannt wurde, von dem nur noch der Körper existent ist, dessen Geist sich aber bereits in einer anderen Sphäre aufhält. Er führt damit das Gespenstische des Lagers, die vollkommene Irrealität in kaum zu ertragender Weise vor Augen: »Unglaubliche Gerippe mit leeren Augen tasten sich blind über stinkenden Unrat. Sie lehnen sich gegen einen Pfosten und bleiben mit gesenkten Köpfen stehen, still und stumm, eine Stunde, zwei Stunden. Irgendwann sackt der Körper zusammen. Aus dem lebenden Leichnam ist ein toter geworden.«
Aber das ist nur ein Teil von Roussets Lageraufzeichnungen, denn er befasst sich auch mit der Lagerstruktur, mit der Hierarchie, in der niemand vor niemandem sicher sein konnte. Er erstellt eine Typologie der verschiedenen Nationalitäten im Lager, in der die Polen als »erstaunlich unkultivierte, dumpf nationalistische Leute« beschrieben werden - mit einem »großzügigen Antisemitismus«. Er analysiert die Konflikte zwischen den Kommunisten und den Kriminellen. Aber er beschreibt auch den im Verborgenen noch keimenden rudimentären Willen zum Leben jenseits des alles beherrschenden Lageralltags, wenn politische Gefangene diskutierten und Vorträge »über Industrialisierung und Massenproduktion« organisierten, denn Intellektuelle gab es im Lager genug.
Dass es gerade die politischen Gefangenen waren, die dazu beigetragen haben, das Lager - wenn man davon überhaupt sprechen kann - »erträglich« zu machen, wirft noch einmal ein anderes Licht auf die Debatte 1995, als die Kommunisten zur »Elite des Grauens« erklärt und zur Hilfstruppe der SS degradiert wurden. Nach der Lektüre des Buches aber weiß man, dass das Wesen des Lagers gerade in der Perfidie bestand. Überleben zu wollen bedeutete, sich anderen gegenüber schuldig zu machen, was ja auch geklappt hat, denn es waren die Überlebenden, die ihr Leben lang von der Frage der Schuld gequält wurden, nicht die Nazis.
Roussets Aufzeichnungen verdeutlichen zudem, dass die Lager unterschiedliche Eigenarten hatten und keineswegs einheitlich waren, und das nicht nur bezogen auf die Existenz reiner Vernichtungslager. Die vollendete Sinnlosigkeit in diesem kafkaesken Universums des Lagers brachte eine Grausamkeit hervor, die lange Zeit den Blick auf die Bürokratie des staatlich organisierten Völkermords verstellte und damit auch darauf, wie viele ganz normale Menschen an diesem Prozess beteiligt waren.
Dies ist nur einer von vielen Gründen, die es notwendig machen, dieses Buch auch heute noch zu lesen, und das nicht nur aus dokumentarischen Gründen, sondern weil es mit seinem unmittelbaren, hektischen, stakkatohaften Stil dem Leser deutlich macht, was es heißt, der totalen Rechtlosigkeit ausgesetzt zu sein.
David Rousset: Das KZ-Universum. A. d. Franz. v. Volker Weichsel u. Olga Radetzkaja. Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, 141 S., geb., 22 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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