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Es ist eine Wohltat, eine Weile keine Gesichter lesen zu müssen
Best of Menschheit Teil 29: Masken
Hunderttausende Jahre sah der Homo sapiens nur die Gesichter seiner jeweiligen Sippe und sich selbst höchstens einmal in der Spiegelung eines stehenden Gewässers. Ab der Zeit der Siedlungen, der Seefahrt und den Straßen wurden es mehr und mehr Gesichter, die das humane Einzelexemplar wahrzunehmen und zusammenzusetzen gezwungen war.
Denn es ist tatsächlich ein Zwang: Das menschliche Gehirn - es sei denn, es wird von einer Prosopagnosie gehemmt - will unbedingt Gesichter sehen, Nasen, Augen, Lippen und so weiter zusammenpuzzeln, auch zum Beispiel im Mond, in den Rauchschwaden der brennenden World-Trade-Center-Türme oder was immer der Friedrich Merz da vorne am Kopf herumträgt. Es ist eine Grundfunktion des Menschseins, die die Wiedererkennung bevorzugter Mitmenschen erleichtert, ohne sich Details merken zu müssen. Sapiens-Paare können Jahrzehnte miteinander verbunden sein, zusammen leben, lieben, streiten, und dann kann einer der beiden, meist männlichen Geschlechts, doch nicht auf Anhieb die Augenfarbe des/der anderen benennen, aber natürlich trotzdem jederzeit das Gesicht erkennen.
Die Menschheit hat im Kapitalismus zu sich gefunden und mit dem, was euphemistisch »Klimawandel« genannt wird, zu ihrem Ende. Zeit also, kurz vor Schluss zurückzublicken auf ein paar Tausend Jahre Zivilisation und all das, was trotz allem gar nicht so übel war.
Der Blick ins Gesicht war lange Zeit Luxus. Früh war der Spiegel ein Gut der höheren Stände, das Glotzen auch ins eigene Gesicht ein Privileg. Fast jede Gesellschaft schuf Fiktionen der Maskierungen und Verschleierungen, tabuisierte mehr oder minder den schamlosen Blick ins Antlitz der Nächsten. Umso mehr tobte sich der Gesichtsfetisch des Menschenhirns in der Kunst aus: Bildhauerei und Malerei, anfangs Stilisierungen und Mythologisierungen des Sapiens-Körpers, wurden mit der verstärkten Hierarchisierung der Gesellschaften zu Gesichtsverewigungen der vermeintlich Wichtigen.
Auch das bewegte Bild, anfangs vom fehlenden Ton und der unzureichenden Filmtechnik gezwungen, Gesichter in grober Mimik zu verstecken, wurde alsbald zur intimen Schau der Züge der Schädelfront. Der Blick, der der Kamera als Stellvertreterin aller anderen gewährt wird, war sonst höchstens Liebenden, einem Kind oder für den Blick aufs Kind gestattet. Oder mittlerweile, zum Finale der gesichtsverherrlichenden Spezies hin, der stets nahen Telefonkamera - damit etwas, das Namen wie »Facebook« trägt, Futter bekommt. Gesichter sind auch universales Kommunikationsmittel geworden, in comichaft stilisierter Form eine internationale digitale Sprache. Der Brief und das Gespräch, verschmolzen im Chat, brauchen Strichgesichter, um daran zu erinnern, dass die Mitteilung echter Gefühle der wesentliche Zweck der Menschenkommunikation ist.
Dabei sind Gesichter längst in ihrer brachialen Überrepräsentation Stress. Das, was der intime Blick eigentlich will, nämlich entdecken, wie es dem Gegenüber geht, welche Gefühle Wörter und Berührungen hinterlassen, ist ein emotionaler Aufwand, der in dieser Masse gar nicht zu leisten ist. Es ist eine Wohltat, eine Weile keine Gesichter lesen zu müssen. Nicht umsonst sind die exzessivsten Feiern der Menschheitsgeschichte mit Masken verbunden; dort, wo die Gesichter verschwinden, wird anderes im Menschen frei.
Es ist wenig von dem übrig geblieben, was die wenigen Optimisten unter den Vernünftigen als Positives der Corona-Pandemie anzusehen versucht haben. Vor allem gab es natürlich keine auch noch so kleine Einsicht bei Kapital und Politik, die sich aus dieser expliziten Version des Normalzustands hätte ergeben müssen. Es geht einfach alles so weiter - aber mit Masken in vielen öffentlichen Räumen.
Und immerhin ist das doch eine Freude: dass große Teile all dieser vereinnahmenden Gesichter wenigstens manchmal hinter langweilen Stoffen verschwinden. Schade nur, dass es fast immer die dümmsten Fressen sind, die sich dieser Wohltat am Mitmenschen verweigern.
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