- Kultur
- Popgeschichte
Das Experiment wird Programm
Ernst Hofacker hat eine grundgelehrte Popgeschichte der 70er Jahre geschrieben.
Lies die Zeitung nochmal,
trink noch’n Whisky,
einen auf die siebziger Jahre,
dieses elende grosszügige Jahrzehnt.
Wolf Wondratschek
Ältere Zeitgenossen wie Tom Wolfe sprechen schon früh vom »Ich-Jahrzehnt«, das die »Wir-Dekade« der 60er Jahre abgelöst habe. Wer lange genug lebte, sollte sein Urteil noch einmal überdenken angesichts der neoliberalen Entfesselung des Opportunismus in den folgenden beiden Jahrzehnten und den 70ern nachträglich seine Absolution erteilen. Die Nostalgieveranstaltungen, die kurz vor der Jahrtausendwende beginnen und das Dezennium zu einer prilblumenbunten, modisch bedenklichen, aber allemal freundlich verrückten Party verklären, legen einen solchen Urteilswandel jedenfalls nahe.
Die Auflösungserscheinungen, die Wolfe und seine Alterskohorte konstatieren, sind dennoch offensichtlich. Die Gegenkultur ist kollektiv gescheitert - mit ihrer Revolution. Noch nicht einmal das Minimalziel, den Vietnam-Krieg zu beenden, hat sie erreicht. Ihre »große Erzählung« hat sich letztlich als zu idealistisch erwiesen, also versucht man es von nun an mit kleineren. Enttäuschter Idealismus verwandelt sich in Pragmatismus und gelegentlich auch in freudlose Radikalität. Die Befreiungsidee soll sich im Leben bewähren, und das geht nicht ohne Spezialisierung. Die einst geschlossene oder sich zumindest als Gemeinschaft verstehende Gruppe der »beautiful people« differenziert sich in viele kleine Separatkulturen aus, in die Frauen-, Kinderladen-, Umwelt-, Anti-Atomkraft- und Sponti-Bewegung, die K-Gruppen und nicht zuletzt die »Stadtguerilla«, die dann wirklich bitter ernst machen. Hier kanalisiert sich das gegenkulturelle Engagement, hier arbeitet man sich an den konkreten Verhältnissen ab, reibt sich auf und probiert immer wieder etwas aus. Jens Balzer nennt seine Kulturgeschichte der 70er Jahre nicht ohne Grund »Das entfesselte Jahrzehnt«, weil »alles Neue, Unbekannte und Experimentelle« als »Verheißung« empfunden wird und nicht wie heute als »Bedrohung«. Das Experiment wird zum Programm, das Alte steht auf dem Prüfstand.
Pop bzw. Rockmusik, die künstlerische Leitwährung der Jugendkultur, spiegelt diese Entwicklung. Sie diversifiziert sich im Laufe des Jahrzehnts in immer neue Subgenres - Heavy Metal, Glam, Prog, Fusion, Punk, Southern, Krautrock, Disco, Reggae, AOR, Rap -, sodass Ernst Hofacker in seiner souveränen, grundgelehrten Musikhistorie »Die 70er. Der Sound eines Jahrzehnts« von der »fruchtbarsten Phase der modernen Popmusik« sprechen kann.
Für einen Verwandlungskünstler wie David Bowie, der mit Ideologemen, Haltungen, Kostümen und eben auch Genres jongliert und sich alle paar Jahre neu erfindet, eine ideale Spielwiese. Bowie wird denn auch zur archetypischen Figur dieses Jahrzehnts. Vom Zuspät-Hippie über den geschlechtslosen außerirdischen Glam-Rocker Ziggy Stardust zum Blue-Eyed-Soulman und faschistophilen »Thin White Duke« bis zum Elektronik- und New-Wave-Avantgardisten im Schatten der Berliner Mauer hat er die stilistische Diversität des Jahrzehnts in einer Breite abgebildet wie kaum ein anderer Künstler vor und nach ihm.
Eine kulturell so heterogene, experimentierfreudige Epoche lässt sich oft nur mit der Koinzidenz von Gegensätzen beschreiben. Es gibt den Mann neuen Typs, den »Softie«, und zugleich die Mode der »Lederhosen«-Filme, diese Liaison zwischen Softporno und Heimatschmonz, in denen archaisches Mackertum und Potenzgeprotze weiterhin dick auftrumpfen darf. Dass es sich hier nicht bloß um milieuspezifische Differenzen handelt, zeigen die damals geläufigen, mindestens genauso sexistischen Spruchweisheiten der Gegenkultur: »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment«.
Die von Historikern oft beschriebene »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« zeigt sich offenbar besonders deutlich in einem innovationsfreudigen Jahrzehnt wie den 70ern. Während Bowie in den Berliner Hansa-Studios mit der Hilfe von Brian Eno und Tony Visconti Ambient-Songs zusammendübelt, nehmen die Sex Pistols die Lesser Free Trade Hall in Manchester vor erlesenem Publikum auseinander und sorgen damit für die Gründung diverser Punkbands. Derweil erholt sich Bob Dylan von seiner gerade beendeten Rolling-Thunder-Revue, mit der er noch einmal wie ein alter Fahrensmann mit seiner Wanderbühne Neuengland abgeklappert hat, und Donna Summer arbeitet nach ihrem globalen Discohit »Love To Love You Baby« mit Giorgio Moroder an weiteren goldenen Schallplatten. In diesem großen Nebeneinander von Tradition und Innovation gerät konventionelle Popgeschichtsschreibung an ihre Grenzen.
Vielleicht macht aber gerade diese Vielfalt die wachsende Faszination für dieses Jahrzehnt aus, das enorme Potenzial der Dekade, die Entfaltungsmöglichkeiten, die sie für den einzelnen bereit hielt, und dank hoher vertikaler Mobilität eben sogar für die Arbeiterklasse. »Man hatte damals zwei Möglichkeiten«, skizzierte mal ein bekannter Hochschullehrer die splendide Ausgangslage in jenen Tagen. »Entweder man fuhr gegen den Baum oder man wurde Professor.«
Die Unterlassungssünde älterer Popgeschichten, den Beitrag von Frauen und Schwarzen nicht adäquat zu würdigen, begeht Hofacker nicht. Und man erfährt hier durchaus auch Neues abseits des Kanonischen. So schreibt er eine inspirierte Eloge auf die ebenso unorthodoxe wie selbstbewusste Hard-Funk-Diva Betty Davis, die man nicht unbedingt auf dem Zettel hatte.
Gerne liest man auch die unversnobte Faszination, mit der sich Hofacker des gerade von vielen Zeitgenossen verachteten Phänomens Disco annimmt. Er zitiert die Borniertheiten eines deutschen Medienwissenschaftlers, der sich am »wimmernden Falsett und überzogenen Soul-Vibrato« in dem Bee-Gees-Song »Night Fever« stört, wo noch dazu eine »Pseudo-Gemeinschaft« beschworen werde, die sich allein auf »hirnlose Körperzuckungen« gründe. Und dann lässt er ihnen mit trockener Beiläufigkeit die Luft raus. »Natürlich sind solche Vorwürfe unsinnig, denn sie ignorieren, dass jeder Musikstil seine eigenen Formeln, Qualitätsparameter und damit auch besonderen Produktionsmethoden entwickelt.« So macht man das.
Ernst Hofacker: Die 70er. Der Sound eines Jahrzehnts. Reclam, 350 S., geb., 28 €.
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