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- Corona für Menschen mit Behinderungen
Lockerung bringt uns neuen Stress
Die Eltern behinderter Kinder haben mit Einschränkungen zu tun, die selten die nötige Aufmerksamkeit erfahren
Herr Körner, Menschen mit Down-Syndrom haben in der Regel ein schwächeres Immunsystem und können deshalb während der Coronazeit zu den Risikogruppen zählen. Welche Auswirkungen hat das aktuell auf Ihr und Yantis Leben?
Die Ungewissheit über die tatsächliche Ansteckungsgefahr und die mögliche Schwere des Krankheitsverlaufs macht uns derzeit am meisten zu schaffen. Menschen mit Down-Syndrom gehören nicht pauschal zur Risikogruppe, da zwar einige ein schwächeres Immunsystem haben, aber bei weitem nicht alle. Aber Yanti hat Vorerkrankungen. Die Lunge ist ihr Schwachpunkt. Sie hat häufig Bronchitis und lag schon im Babyalter mit Lungenentzündung auf der Intensivstation. Darum haben wir uns schon Anfang März - noch vor den offiziellen Kontaktbeschränkungen - in Quarantäne begeben.
In der Coronazeit stoßen viele Familien an ihre Grenzen. Besonders herausfordernd ist die Krise für Familien mit behinderten Kindern. Das weiß auch Fabian Sixtus Körner (38). Seine dreijährige Tochter Yanti hat das Down-Syndrom. Wie sie sein Leben verändert hat, beschreibt der Designer, Fotograf und Filmemacher im Buch »Mit anderen Augen. Wie ich durch meine Tochter lernte, die Welt neu zu sehen.« Im Interview mit Philipp Hedemann spricht er darüber, warum Lockerungen in der Coronazeit für ihn und seine Familie keine Entlastung bedeuten und was passieren muss, damit Integration gelingen kann.
Yanti hat besonderen Förderungsbedarf und hätte deshalb Anspruch auf Kita-Notbetreuung. Um sie vor einer Infektion zu schützen, nehmen Sie diese jedoch nicht wahr. Vermisst Yanti die Kinder aus ihrer Kita?
Yanti fragt oft nach ihren Betreuern und Kindern aus der Kita, aber sie scheint gut zu verarbeiten, dass sie sie derzeit nicht sehen kann. Ich habe jedoch von anderen Eltern gehört, dass ihre Töchter und Söhne öfter wütend und unausgeglichen sind und teilweise Entwicklungsrückschritte machen. Bei Yanti habe ich das Gegenteil festgestellt. Sie macht großartige Fortschritte, da sie jetzt durch uns Eins-zu-Eins-Betreuung bekommt. Wichtig ist, dass sie sich traut, ihren Bedürfnissen Raum zu geben. Das ist in einer Gruppe von Kindern, die in ihrer Entwicklung vielleicht schon weiter oder reaktionsschneller sind, für sie oft schwierig. Daher hat sie in den letzten Monaten große sprachliche Sprünge gemacht und ihr Selbstbewusstsein ist gestärkt worden.
Wäre Yantis Kita während der Coronazeit auf die Betreuung eines Kindes mit Downsyndrom vorbereitet?
Unsere Kita ist ein Glücksfall und sehr engagiert. Und in der Coronazeit wäre sie für Yantis Betreuung vermutlich sogar besser aufgestellt gewesen, da nur eine Handvoll Kinder auf einen fast vollbesetzten Betreuerstab treffen. Aber es war uns schlichtweg ein zu hohes Risiko, Yanti mit zehn bis 15 Menschen und viel Körperkontakt in geschlossene Räume zu schicken.
Gibt es andere spezielle Fördermaßnahmen, die Sie derzeit nicht wahrnehmen kann?
Ja, einige. Die weggefallene Förderung und das Monitoring ihrer Entwicklung im Sozialpädiatrischen Zentrum ist wohl der schwerste Verlust. Wir hängen da ein wenig in der Luft und müssen bei der Förderung auf unser Bauchgefühl hören, auch wenn wir uns regelmäßig per Email mit den Therapeuten austauschen. Aber auch die Therapie »Frühes Lesen«, ein Beratungsgespräch mit Fachleuten in Nürnberg, auf das wir fast ein Jahr gewartet haben, Inklusionssport in der Turnhalle um die Ecke - all das entfällt.
Oft sind für Kinder mit besonderem Förderbedarf feste Strukturen wichtig. Aber in der Coronazeit fallen viele Strukturen weg. Ist das für Yanti ein Problem?
Yanti ist neuen Dingen gegenüber sehr aufgeschlossen und meist entspannt. Wenn sie überfordert ist, merken wir es sofort. Für sie ist es wichtig, dass mindestens ein Elternteil - bestenfalls beide - bei ihr sind. Dann äußert sie selten das Verlangen nach wiederkehrenden Mustern. Meine Frau und ich können unsere Jobs in der Regel am Computer von fast jedem Ort der Welt wahrnehmen. Seitdem Yanti vier Monate alt ist, waren wir deshalb normalerweise mehrere Monate im Jahr unterwegs. Auf unseren Reisen hatten wir bereits mehrfach eine ähnliche Situation wie jetzt. Wir müssen die Betreuung alleine übernehmen und gleichzeitig unsere Jobs machen. Yanti hat deshalb grundlegende Veränderungen in ihrem Tagesablauf vermutlich schon verinnerlicht. Nur feste Essens- und Bettzeiten haben bei uns stets Bestand.
Schulen und Kitas öffnen wieder. Für viele Familien beginnt die Rückkehr zur Normalität. Sie sind davon noch weit entfernt. Wie lange müssen Sie sich voraussichtlich noch einschränken?
Solange es keinen Impfstoff gibt, können wir uns nur auf Informationen aus wissenschaftlichen Studien und unser Bauchgefühl verlassen. Natürlich spielt es dabei auch eine Rolle, wie die Umwelt reagiert. Halten sich die Menschen an Kontaktbeschränkungen, nehmen sie Unannehmlichkeiten in Kauf, um gefährdete Gruppen zu schützen? Das muss ich nach anfänglich positiven Erlebnissen mittlerweile leider stark verneinen. Es wird immer schwieriger für uns, auf die Straße oder in den Park zu gehen, da die Menschen nicht mehr auf ausreichend Abstand achten. Für uns ist es seit den Lockerungen der Beschränkungen umso schwieriger geworden, und Orte, an denen man sich auf Abstand bewegen kann, gibt es kaum in unserem Viertel. Die Spielplätze haben zwar wieder geöffnet, sind aber für uns Sperrgebiet. Die wenigsten Eltern achten darauf, dass ihre Kinder Abstand zu anderen Kindern halten. Für diese Eltern ist das natürlich eine große Erleichterung. Für uns bedeutet es jedoch, noch weniger Freiheit als während der strengeren Kontaktbeschränkungen. Die Lockerungen bedeuten für uns gerade noch härtere Einschränkungen.
In den Niederlanden wurde der Regelbetrieb von Förderschulen als erstes wieder aufgenommen. Kommen Familien mit behinderten Kindern in der Corona-Zeit in Deutschland zu kurz?
Dazu möchte ich sagen, dass Sonderschulen kein Fortschritt in Sachen Inklusion sind, sondern das überholte Bild zweier getrennter Welten - Menschen mit und Menschen ohne Behinderung - aufrechterhalten. Zunächst hört es sich zwar super an, dass Eltern von Kindern mit Behinderung entlastet werden, aber langfristig schadet dieser Schritt eher. Für mich hat das Ähnlichkeit mit der zeitweilig diskutierten Kaufprämie für Diesel und Benziner. Kurzfristig nutzt es der Wirtschaft, langfristig schadet es dem Klima.
In Hamburg sorgte der Fall eines sieben Jahre alten Jungen mit Downsyndrom für Empörung. Da die Schule ihm offenbar nicht zutraute, sich an die Hygiene- und Abstandsregeln zu halten, sollte er zunächst separat in einem Nebenzimmer unterrichtet werden. Könnten durch die Corona-Krise bereits erreichte Fortschritte bei der Inklusion rückgängig gemacht werden?
Das ist ein klassisches Beispiel der Exklusion. Also nicht mal eine Missachtung von Inklusion, sondern das extreme Gegenteil. Ich kann nachvollziehen, dass bei erhöhtem Stresslevel solche Entscheidungen leider immer häufiger vorkommen. Aber Inklusion bedeutet eben auch in schwierigen Zeiten nicht nur das Wohl der meisten, sondern das Wohl aller Beteiligten zu berücksichtigen. Das hieße in diesem konkreten Fall: Auch wenn nur eine einzige Person durch die neuen Regelungen ausgegrenzt wird, müssen andere Regelungen her, die gemeinsames Lernen ermöglichen. Das eigentliche Problem, welches ich bei diesen Entscheidungen habe, ist die fehlende Unterstützung von Seiten der nichtbehinderten Menschen. Für eine gelungene Inklusion sind nicht nur die richtigen Entscheidungen nötig, sondern, dass die anderen Schüler und deren Eltern in solchen Situationen sagen: »Moment, so geht’s nicht!«
Viele Familien stoßen während der Coronakrise an ihre Grenzen. Dabei können viele Kinder sich auch mal alleine beschäftigen oder ihre Eltern können sie notfalls eine Zeit lang vor dem Fernseher parken. Yanti braucht besonders intensive Betreuung; es gibt für Ihre Familie kaum Entlastungsmöglichkeiten. Wie kommen Sie damit klar?
Yantis Mutter ist Geschäftsführerin ihres eigenen Unternehmens, daher übernehme ich den Großteil der Kinderbetreuung und der Arbeit im Haushalt. Meine Aufträge - meist Leseveranstaltungen - mussten aufgrund der Kontaktbeschränkungen sowieso abgesagt werden. Die Situation ist zwar wahnsinnig anstrengend, trotzdem geht es uns vergleichsweise gut. Unsere Jobs sind auf lange Sicht nicht gefährdet, und wir sind bisher nicht in finanzielle Schwierigkeiten geraten.
Um Yanti zu schützen, haben auch Sie und Ihre Frau Ihr Sozialleben viel stärker eingeschränkt als die meisten anderen jungen Eltern in Deutschland. Leiden Sie darunter?
Wir haben mittlerweile um Berlin herum ein paar Orte gefunden, die für uns keinen Spießrutenlauf bedeuten, Orte, die Yanti auch mal frei erkunden kann. Zum Glück haben wir einen Camper, mit dem wir auch während Corona zumindest ein Stück Freiheit leben können. Beim Besuch von Familie und Freunden heißt es für uns, vor dem Haus im Camper schlafen und nur im Freien Kontakt haben. Da wir Situationen, in denen wir für längere Zeit keinen direkten Kontakt mit Familie und Freunden haben, von unseren Reisen kennen, kommen wir damit einigermaßen gut zurecht.
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